Ockstadt, den 15. April 2020 – “Hanami” ist in Japan eine regelrechte Volkssportbewegung. Wenn im März die ersten Kirschbaumblüten sich entfalten gibt es kein Halten mehr. Alles (natürlich außerhalb der Coronazeiten) was Beine hat, ist draußen, um nach japanischer Wertvorstellung die kurze Zeit von Schönheit, Aufbruch und Vergänglichkeit zu genießen. Man kann das Ganze aber auch abkürzen, in dem man seine Wanderstiefel schnürt, sich in die Wetterau nach Friedberg-Ockstadt bewegt, um in die wunderbare Blütenwelt von mehr als 42.000! Kirschbäumen einzutauchen. Wie man dazu die ganzen Passage mit einer formidablen Prise Salz garnieren kann, wird sich 28 Kilometer später auflösen.
Die Wetterau – jahrhundertelang mit dem Prädikat “Kornkammer des Rhein-Main-Gebietes belegt. Einst unterhielt man hier Baumwollplantagen, jedoch die Märkte brachen, ausgelöst durch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zusammen, und man mußte sich nach Alternativen umsehen. Man versuchte es mit Kartoffeln und landete schließlich bei Kirschbäumen, und das bereits seit mehr als 200 Jahren. So verteilen sich mittlerweile 42.000 Kirschbäume auf 500 Eigentümer und rund 50 Ockstädter Kirschbauern kümmern sich um die Hege und Pflege.
Es gibt keinen expliziten Kirschblütenrundwanderweg in Ockstadt. So gilt es in der Ortsmitte von Ockstadt zu starten, um zunächst einmal das größte zusammenhängende Streuobstgelände Hessens zu umrunden. Nordwärts geht es der Kapellenstraße folgend hinauf zum kleinen Funkturm.
Angeblich sollen mehr als 40 Kirschsorten hier zu finden sind. Unterschiedlich dabei die Wachstumsstände der Kirschbäume. Früher baute man Kirschbäume an, die in die Höhe schossen, was für die Ernte eher hinderlich war. Heute werden viele Kulturen eher flach gehalten.
Am Funkturm kann man seine Blicke Richtung Friedberg, nach Bad Nauheim und in die Weiten der Wetterau schweifen lassen. Doch zunächst geht es nach einer Kehre zurück, um einer ehemaligen Panzerstraße zu folgen. Vorbei an einem Golfplatz, der coronaseuchenbedingt, da unbespielt, einen verwahrlosten Eindruck macht, geht es in südöstlicher Richtung vorbei an weiteren Kirschbaumplantagen zurück nach Ockstadt.
Nach dem acht Kilometer langen warm-up durch die Kirschgefilde bietet es sich an, diese Passage auszuweiten und anzureichern, um dann mit einem blütenreichen Finale den passenden Schlußpunkt zu setzen. Da das Gebiet, welches am Rande der Wetterauer Seenplatte liegt grundsätzlich flach ist, bietet es sich an, Höhenluft zu schnuppern um in den westlich gelegenen Taunus einzusteigen. Durch das angedockte Ockstädter Industriegebiet geht es über die A5 aufwärts. Scheinbar haben Hundertschaften von Forstarbeitern ganze Arbeit in diesem Waldabschnitt geleistet. Gewaltig die Rodungen, die teilweise an eine kasachische Steppe erinnern. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zwei trockene Sommer, mehrere Stürme und der üble Borkenkäfer haben kollektiv ein Drittel des Fichtenbestandes in der Region vernichtet. So sind einige Waldpfade derzeit auch nicht nutzbar.
Ein markantes Wanderzeichen zeigt wo es lang geht. Auf dem Limespfad zu römischen Stätten. Kein Wunder, denn man befindet sich in der Nähe eines der markantesten römischen Kastelle, die Saalburg, die auch schon Gegenstand einer Exkursion gewesen war. Mitten im Wald stößt man am Rande eines Munitionsdepots auf freigelegte Reste eines römischen Kleinkastells.
Weiter geht in einer Schleife zum nächsten Teilziel, dem auf 500 Meter hoch gelegenen Wintersteinturm, eine schöne Aussichtssichtsplattform. Bei klarer Sicht hat man grandiose Blicke über die Weiten der Wetterau bis hin zum Vogelsberg, Richtung Spessart und der Metropole Frankfurt. Bei diesigen Sichtverhältnissen, wie an diesem Tag ist es nicht verboten hier oben ein zweites Frühstück aus dem Rucksack einzulegen.
Wo es rauf geht, geht es auch wieder runter – zum dritten Teilziel dieses Trails, Bad Nauheim, dort wo es besonders salzig zugeht. Zunächst führt ein Pfad vom Aussichtsturm steil abwärts, parallel zu einem MTB-Trail, der den wunderbaren Namen “MTB Trail Winterstein Ebbelwoi” trägt. Vier Kilometer nach dem Winterstein quert man auf der Höhe der Raststätte Wetter Ost abermals die A5 um in die Umlaufbahn der Kur- und Bäderstadt Bad Nauheim einzuschwenken. Einst war Bad Nauheim ein mondänes Luxusbad. Albert Einstein, Otto von Bismarck, Richard Strauß, Königin Elisabeth, Zar Nikolaus, um nur einige der prominenten Kurgäste zu nennen, wandelten hier zu besten Zeiten herum.
Fernab des Müßigganges der Prominenz bietet es sich eher an, den Bad Nauheimer Salzweg zu erkunden. Salz, das Gold der Vergangenheit, prägte von jeher die Kurstadt. Bereits die Kelten haben hier im großen Stil Salz gewonnen und bis Mitte des 20. Jahrhunderts war hier eine Salzsiederei in Betrieb. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden 23 gewaltige Gradierwerke unterhalten, Teiche als Wasserreservoire angelegt, und gewaltige Wasserräder und Pumpen kompensierten teilweise den Niedrigwasserstand der Flüsse Wetter und Usa. Der technische Aufwand war riesig und 1959 wurde die Salzgewinnung mangels Rentabilität eingestellt. Heute werden noch fünf Gradierbauten unterhalten, als integrativer Bestandteil der Kuranlagen.
Man könnte geneigt sein, wenn man den Rucksack entsprechend eingerüstet hätte, eine Flasche Rotwein und etwas Käse auszupacken um auf eine der eingebrachten Bänke in den Kurmodus überzugehen. Mangels entsprechender Ausrüstung geht es jedoch weiter, den markierten Salzweg folgend, zum Bad Nauheimer Stadtteil Rödgen. Hier trifft man auf die nächste Station der salzigen Tour, das Schwalheimer Rad. Technisch genial konstruiert, wurde hier 1748 eines der größten Wasserräder Europas errichtet, welches mit einem raffinierten 900 Meter langen Kunstgestänge bestückt wurde. Mit Horizontalgelenken überbrückte man Höhenunterschiede von 20 Metern und optimierte die Salzproduktion. Ein historischer Meisterwerk deutscher Ingenieurkunst.
Folgt man dem markierteen Salzweg, so erreicht man nach zwei weiteren Kilometern den zwischen Schwalheim und Dorheim gelegenen Schwalheimer Sauerbrunnen. Explizit handelt es sich hierbei um zwei Quellen, den 1903 gebohrten Löwenbrunnen und den alten Römerbrunnen. Beide Brunnen sind begehbar und nebenan hätte man (wenn man kein Freund des Natrium-Chlorid-Hydrogencarbonat-haltigen Säuerlings ist) Gelegenheit zu regulären Zeiten , ein wohlschmeckendes chloridfreies Weissbier zu verzehren.
Über Feld und Flur geht es zurück nach Bad Nauheim, in das Epizentrum der Kur- und Bäderstadt. Durchaus empfehlenswert ist ein Gang durch den Goldsteinpark, das Zentrum der in 2010 abgehalteten Landesgartenschau. Am Ende der Anlage stößt man auf die ehemalige Salinenanlage, dort wo die Siedepfannen und die Salzlagerstätten eingebracht waren. Die Bahngleise unterquerend führt der Weg zum Sprudelhof mit seinen Jugendstil-Badehäusern. Hier sprudeln aus 200 Meter Tiefe30 Grad warme eisen- und kohlensäurehaltige Thermalsolen.
Der Usa folgend geht es in südöstlicher Richtung zurück nach Ockstadt. Die Kirschblütenzeit ist einfach zu schön. So habe ich bewußt nochmals als Rückweg den Gang durch den morgendlichen Hinweg gewählt um die salzigen Eindrücke der letzten beiden Stunden mit einer blütenreichen Opulenz zu krönen.
Eine gesalzene Kirschblütenwanderung – so ungewöhnlich der Titel dieses Beitrags, so außergewöhnlich die Eindrücke dieser Tour. Gute 43 Kilometer, übersichtliche 775 Höhenmeter. Eine geballte Ladung für natur- und kulturinteressierte Langstreckenwanderer, dem Credo dieses Blogs entsprechend.
Klingt spannend und endlich mal eine längere Strecke
Kann man den gpx-Track auch runterladen?
Eine gute Wahl zur anstehenden Kirschblütenzeit. Den Track habe ich zugemailt. Viel Spaß -Martin-