Bad Sachsa, den 20. August 2023 – Grenzerfahrungen en masse kann man im Mittelgebirgsareal des Thüringer Beckens, dem Bindeglied zwischen Harz und dem Thüringer Wald sammeln. Unweit der Grenze zu Sachsen-Anhalt startet man in Bad Sachsa, am südlichsten Zipfel Niedersachsens, um in das Bundesland Thüringen einzuschwenken. Kurzabstecher nach Nordhessen, ein Gang über den Kolonnenweg, vorbei an Agentenschleusen, und Grenzgänge auf historischen Pfaden, dort wo sich die einstige Nahtstelle zwischen dem Königreich Preußen und dem Kurfürstentum Hessen befand. So fällt es ab und an schwer den Überblick zu behalten, auf welchem Hoheitsgebiet man sich aktuell befindet, in diesem Teilabschnitt des insgesamt 1.100 Kilometer langen Deutschen Mittelgebirgs-Trails (DMT) unterwegs ist, einem offiziell (noch) nicht existenten Wanderweg, der ausschließlich über deutsche Mittelgebirge führt.
Gestartet wird am Bahnhof Bad Sachsa, dem Endpunkt des vorausgegangen Trails durch den Harz. Der Bahnhof liegt j.w.d., und wer glaubt die ÖVM-Anfahrt mit einer komfortablen Stadtbesichtigung von Bad Sachsa zu verbinden, der irrt. Vom Bahnhof geht es, einen Karstwanderweg folgend, vorbei an der Felswand des Sachsensteins, ein gipssteintragendes Relikt aus der Eiszeit. Bereits nach sieben Kilometern ist die Landesgrenze von Thüringen erreicht und man wandert entlang des Kolonnenweges, dort wo einst DDR-Grenzsoldaten Schicht schieben mussten.
Bad Sachsa – Holungen
Dünnbesiedelt und geschichtsbelastet strukturschwach nimmt man zunächst die Region wahr, jedoch zumindest augenscheinlich noch intakt die Areale im Mackenröder Wald und für Erholungssuchende ein idealer Rückzugsort. Einmal mehr bestätigt sich der Untertitel des Wegeentwicklers Frank Gerbert, der davon spricht auf stillen Wegen durch eine alte Kulturlandschaft unterwegs sein zu können. Vorbei an früherer Grenzkaserne in Weilrode, die heute einen verwahrlosten Eindruck macht, (in 2017 wurde hier ein gruseliges Hunde-, Katzen-, Schlangen-, Kriechtiere-, Ratten- und Mäusenest ausgehoben) passiert man den 70 Seelen zählenden Weiler und wandert durch eine sanfthügelige Landschaft zur Landmarke Weißer Stein. Einige Schilder belegen die Existenz von Flurwüstungen, die grenzlagenbedingt mit staatlichem Wohlwollen (Insider sprechen von Zwangsevakuierung) umgesetzt wurden. Auf dem Weg gen Weißenborn-Lüderrode eröffnen sich rundherum schöne Blickachsen in die Mittelgebirgslandschaft des Naturraums Eichsfeld. Hinter Weißenborn-Lüderrode geht es endlich spürbar aufwärts. Nach fünf Kilometern ist der 486 Meter hohe Sonnenstein erreicht, ein Aussichtspunkt der ein schönes Panorama bietet. Ob Ohmgebirge, Goldener Mark, oder Kyffhäuser, der Aufstieg lohnt sich insbesondere zur Sonnenuntergangszeit. Gegenüber blickt man auf die mächtige rote Abraumhalde hinter dem Tagesziel Holungen. Einheimische berichten am Biertisch, dass nicht wirtschaftliche Gründe sondern geopolitische Überlegungen zur Niederlegung des Salzabbaus am Ort führten. 1.000 Menschen verloren 1993 ihre Arbeitsplätze, obschon gutes abbaufähiges Material einen mindestens noch weiteren fünfzigjährigen Bergbaubetrieb gesichert hätten.
Holungen – Heilbad Heiligenstadt
War der Vortag steigungstechnisch noch gemächlich, so gestaltet sich der zweite Tag deutlich lebendiger. Von Holungen aus geht es in die östlichen Ausläufer des Ohmgebirges. Das Naturschutzgebiet Bodenstein streifend erreicht man nach sieben Kilometern Burg Bodenstein, angabegemäß die besterhaltenste Burg im Eichsfeld. Vom Burghof geht es zunächst steil abwärts, vorbei an der Gruft eines ehemaligen Burgbesitzers. Der Weg ist gerade an heißen Sommertagen schön zu wandern, führt vorbei an Wintzingerode und weiterführend entlang der Umzäunung eines Bärenparkes bei Worbis. Zu DDR-Zeiten wurde hier eine Tierstation errichtet, nach der Wende engagierte sich hier eine Stiftung für Wildtier- und Artenschutz, um ein Freigelände für Bären die oftmals aus problematischen Haltungen stammten, zu errichten.
Von Worbis nach Leinefelde, so die Erschließungsreihenfolge auf der Nord-Südtour des Deutschen Mittelgebirgstrails. Offiziell firmieren die beiden Kommunen seit 2004 unter Leinefelde-Worbis, ausgewiesen als Mittelzentrum und größte Kommune im Landkreis Eichsfeld. Jedoch die Schleifspuren der jüngsten Vergangenheit prägen noch heute die beiden Gemeinden. Einst arbeiteten zu Spitzenzeiten 4000 Menschen im VEB Baumwollspinnerei und Zwirnerei in Leinefelde. Der Genickbruch kam mit der Wende – entsprechend gewaltig auch die Auswirkungen in der Region. Dramatisch die Bevölkerungsrückgänge und wandert man durch die beiden Gemeinden so verbleibt zunächst der Eindruck: “Tote Hose”. Jedoch Lichtstreifen am Horizont sind sichtbar. Thüringen investiert in die Region, es gibt Stadtentwicklungskonzepte und 2025 wird hier eine Landesgartenschau abgehalten.
So hallt nichts nach wenn man die beiden Kommunen verlässt und man sich wieder dem Landschaftsbild widmet. Hinter Leinefelde schwenkt man ein auf einen Pilgerweg, einer 280 Kilometer langen Strecke entlang der Weser, der Leine und der Unstrut. Der Weg führt vorbei am Gut Beinrode, wo Pilger auch übernachten können, und man hat auf dem weiterführenden Weg schon Burg Scharfenstein im Blick, dort wo ein Hotel, eine Gaststätte mit Ausflugsterrasse und ein Whiskeymuseum angesiedelt ist. Über den Höhenzug Dün wandert man sehr entspannt gen Heilbad Heiligenstadt, dem Kreissitz. Keine Frage, die Sole-Heilbadestadt wird zurecht auch Perle des Eichsfeldes genannt. Schmucke Gebäude, zahlreiche sakrale Bauten und adrette Kuranlagen prägen das Erscheinungsbild dieser wohlgefälligen Stadt.
Heilbad Heiligenstadt – Wanfried
Diese Tagestour – ein Trail der es in sich hat. Satte 43 Kilometer, gespickt mit Steilanstiegen und analogen Abgängen und satten 1.200 Höhenmetern im Anstieg und 1.300 Höhenmetern im Abstieg. Übersetzt sind das 59 Leistungskilometer. Einkehrmöglichkeiten: Zeitlich bedingt Null. Bei avisierten 27 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von gefühlt 120 Prozent gilt daher das bewährte Prinzip: Stadtflucht vor Sonnenaufgang. Nach Frank Gerberts offizieller Planung wurde die Tour vom Plesse nach Treffurt geroutet, jedoch die Übernachtungsmöglichkeiten sind entlang dieser Etappe sehr bescheiden. So wurde eine gangbare Variante in das nordhessische Wanfried eingebaut, im Nachgang betrachtet eine ausgezeichnete Variante.
Das erste Tageslicht stülpt sich über das nächtliche Heilbad Heiligenstadt und zügig geht es südwärts steil hinauf zum Klöppelsklus, einer historischen Rastation und der erste von insgesamt vier schweißtreibenden Steilanstiegen an diesem Tag. Oben angekommen ist noch ein lohnenswerter Abzweig eingeplant, der Weg zur Maienwand, einem bemerkenswerten Aussichtsplateau. Am westlichen Rand des Heiligenstädter Waldes geht es im Anschluß talabwärts gen Lutter und von dort aus wiederum aufwärts nach dort . Hinter dem Weiler Fürstenhagen lohnt ein Abstecher zum ehemaligen Bahnhof Fürstenhagen, wo der Naturpark Eichsfeld-Hainrich-Werratal ein Informationszentrum eingerichtet hat. Wer hier zur angemessenen Zeit aufschlägt (ab 11:00 Uhr) könnte sich hier sogar verpflegen.
An der Nordflanke des 502 Meter hohen Eichstruther Kopfes geht es dynamisch abwärts nach Mackenrode bevor ein unanständiger Steilanstieg hinauf zum 521 Meter hohen Rachelsberg ansteht. So fragt man sich, wenn man gegen die Kämme läuft, durchaus, welchen Sinn es hat ständig steil auf- und abwärts zu wandern. Jedoch, ab und an gibt es eben auch eine sportliche Komponente. Allerdings – der weitere Streckenverlauf entschädigt, denn der Kammweg gen Hessellücke ist wandertechnisch vom Feinsten. Von der Hessellücke führt ein schmaler Pfad abwärts hinab zum Kolonnenweg, dem Grenzweg zwischen Thüringen und Hessen. Unterhalb den südlichen Kalkklippen des Iberges wandert man auf fünf Kilometern mit Zielrichtung Hülfensberg, der am Grenzeck liegt, und wunderbare Ausblicke über die Eschweger Landschaft ermöglicht.
Von der Pfaffschwender Kuppe geht es via Pfaffschwende abwärts gen Großtöpfer, wo einmal mehr ein Aushangsschild “Heute geschlossen” das am örtlichen Gutshof und Dorfladen hängt, nicht unbedingt den Motivationsspiegel hebt. Natürlich könnte man sich in Großtöpfer das Leben einfach machen und direkt zum Zielort Wanfried wandern. Jedoch an diesem Taggilt: “Wenn schon, denn schon”. So geht es letztmalig aufwärts hinauf zum Kloster Hülfensberg, auf dem gleichnamigen 448 Meter hohen Gipfel gelegen. Das einzige Thüringer Männerkloster der Franziskaner übrigens. Die Wallfahrtsstätte liegt in einem idyllischen Umfeld und der Anstieg ist durchaus lohnenswert. Der Rest – permanent abwärts über eine wenig befahrene Landstraße nach Wanfried, einer ehemaligen hessischen Hafenstadt, die direkt an der Werra liegt.
Wanfried – Eisenach/Hörschel
Der vierte Tag durch das Thüringer Becken hinüber zum Thüringer Wald gestaltet sich, wen sollte es überraschen, analog dem Vortag im ersten Abschnitt gen Treffurt mit einer sehr lebendigen Textur. Vom hessischen Wanfried aus, geht es zunächst aufwärts und zurück nach Thüringen. Ein Highlight der Gesamtstrecke ist dabei der vom Töpferberg Wanderpfad hinauf zur Adolfsburg einem an exponierter Stelle liegenden Muschelkalkberg. Der Weg wird gesäumt von mehr als einhundert Jahre alten knorrigen Kirschplantagen und am Kammweg hat man exzellente Aussichtsmöglichkeiten zum gegenüberliegenden Treffurter Stadtwald. Ein ein Kilometer langer Kammweg führt anschließend ostwärts weiter zur Burg Normannstein oberhalb von Treffurt. Steht man vor der Burg, wird man vom Anblick der mächtigen drei Türme regelrecht erschlagen. Erst an der unten gelegenen Werrabrücke kommt die Burganlage in Gänze zur Geltung.
Der weitere Streckenverlauf, zunächst nach Scherbda, entpuppt sich als reine Kärnerarbeit parallel zur B250. Im Nachgang wäre es klüger gewesen einen Bypass über die Anhöhen des Treffurter Stadtwaldes zu nehmen. Nach einem vier Kilometer langen Waldabschnitt ist Creuzburg erreicht. Auch hier zieht Murphys Gesetz. Das Eiscafe in der Ortsmitte: geschlossen – die Burggaststätte Ruhetag. Wer ein Bedarf an Heil- und Fastenwanderungen hat, hier ist man an entsprechenden Tagen durchaus gut unterwegs. Erquickend jedoch der Gang über die historische Werrabrücke wobei die weitere Wegführung gen Spichra nicht wirklich erbaulich ist, denn der als Radweg deklarierte Pfad entpuppt sich als Promillepfad mit einem ausgeprägten Fahrzeugverkehr zwischen Spichra und Creuzburg. Von Spichra aus begleitet die Werra den letzten Abschnitt nach Hörschel, dem Eisenacher Ortsteil der bei vielen Wanderfreunden bestens bekannt ist. Den hier ist der offizielle Startpunkt des ältesten Wanderweges Deutschlands, dem Rennsteig und der inoffizielle Endpunkt dieser Tour durch das Thüringer Becken.
Dass Thüringer Becken und die darin eingelassene Region Eichsfeld hat überrascht. Man hat als Nichtansässiger die Gegend nicht zwingend auf dem Radarschirm. Jedoch die Vielfalt der Wandermöglichkeiten überrascht. 140 Kilometer verteilt auf vier Wandertage, unterlegt mit, was man nicht vermutet, knackigen 3.400 Höhenmetern. Sicherlich: strukturell sind Einkehrmöglichkeiten und Übernachtungsmöglichkeiten rar. Jedoch mit guter Vorbereitung lassen sich auch ausgedehnte Touren bestens bewerkstelligen. Und wer sondierend in die Region einsteigen möchte, dem sei im September 2024 der Deutsche Wandertage empfohlen, mit zentraler Anlaufstelle im Heilbad Heiligenstadt. Das Programmheft kann man bereits heute herunterladen.
Die Fortsetzung des Deutschen Mittelgebirgs-Trails – bei passender Gelegenheit. So geht es vom Rennsteig aus hinauf zur Wartburg und weiterführend durch den Thüringer Wald gen Rhön zur Wasserkuppe und zum Kreuzberg. Spannende Aussichten auf einem bemerkenswerten Trail…
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