Staudernheim, den 22. August 2015
Zwischen Spaziergang und Wanderung liegt eine Stunde, so zumindest nach einer Studie des Deutschen Wanderverbandes aus dem Jahre 2010. „Wandern ist Gehen in der Landschaft. Dabei handelt es sich um eine Freizeitaktivität mit unterschiedlich starker körperlicher Anforderung, die sowohl das mentale wie physische Wohlbefinden fördert. Charakteristisch für eine Wanderung sind a) eine Dauer von mehr als einer Stunde; b) eine entsprechende Planung; c) die Nutzung spezifischer Infrastruktur sowie d) eine angepasste Ausrüstung“
Unter sportmedizinischen Aspekten setzt Wandern eine gewisse Mindestgeschwindigkeit voraus. So sprechen die Medizingelehrten von einer Wanderung, wenn man mindestens mit fünf bis sechs km/h unterwegs ist, was nicht unbedingt repräsentativ ist für den Alltagswanderer sein sollte, der mit einem empirischen Durchschnittswert von vier Stundenkilometer Natur, Kultur und Wanderwege genießt. Legt man die einheimischen Zeitangaben von einschlägigen Wegemarkierungen zugrunde, so ist oftmals festzustellen, dass im Mittel mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von drei km/h kalkuliert wird. Demgemäß schwer einzuordnen war die Veranstaltung zweier Wandervereine im Nahegebiet, die sich zusammen getan haben, um eine 60 Kilometer lange Wanderstrecke anzubieten, wobei als Zeitfenster 12 Stunden zur Verfügung standen und nebenbei 1.435 Höhenmeter zu absolvieren waren.
Die Idee brilliant, die Streckenführung ausgezeichnet und die Durchführung gut – so da das vorweggenommene Fazit. Eingeladen hatten die Wanderfreunde Schiersfeld, die ihr 60jähriges Jubiläum mit einer 60-Kilometer Jubiläumswanderung feierten und gemeinsam mit dem 12 Kilometer entfernten OSC-Sobernheim eine Ultrawanderung organisierten. Der Start wurde an zwei verschiedenen Startlokalen ausgeschrieben, was natürlich eine zusätzliche logistische Herausforderung, insbesondere bezogen auf die Kontrollstellenpräsenz, war.
Gemeinsam mit 47 Ultrawalkern startete ich in Staudernheim, vierzig weitere traten zur selben Zeit in Mannweiler- Cölln an, allsamt mit einem Ziel, innerhalb des Zeitlimits schmerz- und blasenfrei das Ziel zu erreichen. Start um 6.05 am frühen Morgen bei sehr angenehmen 11 Grad Außentemperatur, wobei die Bekleidungsausstattung der Protagonisten nicht hätte unterschiedlicher ausfallen können. Von Kurzhose mit Muskelshirt, bis hin zu Anorak mit Kapuze – das gesamte Jahresprogramm der Outdoorausrüster war zu besichtigen.
Staudernheim selbst liegt an der mittleren Nahe, die das Nordpfälzer Bergland vom Hunsrück trennt. Die Region ländlich geprägt, mit moderaten Grundstückspreisen (erschlossener Quadratmeterpreis EUR 75,–) und eingebettet in einer weitreichenden Agrarlandschaft. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der Odernheimer Heßweg, einer der mit 65% steilsten Weinberglagen an der Nahe. Markant auch das Landschaftsbild in der Region. Vor dreihundert Millionen Jahren lag Odernheim am Äquator. Statt an Weinbergen entlang zu wandern hätte man in tropischen Seen baden können. Aus den Sedimenten bildetet sich Tonschiefer, der heute als idealer Nährboden für den Weinanbau gilt.
Spektakulär daher auch die Talverwerfungen in der gesamten Landschaft. Man kann nicht zwingend von einer sanfthügeligen Landschaft sprechen. Markante geostrukturelle Verwerfungen bieten auf den Höhenwegen ausgezeichnete und interessante Weitblicke in die Ferne. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich übrigens auch der Rotenfels, die größte Steilwand zwischen den Alpen und Skandinavien.
Bei einer derart ambitionierten Strecke bleibt natürlich wenig Zeit sich intensiver mit dem kulturellen- und naturellen Umfeld auseinanderzusetzen. Im Vordergrund stand diesmal eine anspruchsvolle Konditionswanderung Die Gunst der moderaten Morgentemperaturen ausnutzend, war bereits nach drei Stunden Kilometer 20 erreicht – demgemäß Puffer genug um die Reststrecke entspannt anzugehen. Bemerkenswert die Anzahl derer, die mit Nordic-Walking-Stöcken unterwegs waren und dadurch eine ganz andere Schlagzahl generieren.
Unterwegs treffe ich Steffen, einen Wanderkamerad aus Alzey, der mit einem neuen T-Shirt vom letztwöchigen Dodentochtmarsch aus Belgien unterwegs ist. Stolz berichtet er, dass er die 100-Kilometer-Strecke in 18 Stunden absolviert hat, die Woche zuvor in Ebernhahn im Westerwald die 50-Kilometerstrecke gewandert ist, nun an der Nahe auf Trail ist und nächste Woche an einem Wanderevent in der Nähe von Turin mit vier Marathons an vier Tagen teilnimmt. Mit Demut nehme ich zur Kenntnis, dass der Mitfünfziger erst seit zweieinhalb Jahren als aktiver Wanderer unterwegs ist und jährlich fünf 100km Extremmärsche neben zwanzig weiteren Wandermarathons absolviert. Interessant auch die Marschtechnik, die er und einige andere Mitwanderer praktizieren. Während das durchschnittliche Marschtempo eher als moderat zu bezeichnen ist, wird grundsätzlich abwärts gehend gejoggt um die Muskeln zu lockern und die Belastung der Knie zu reduzieren. Ich verzichte dankend darauf und bewahre den Grundsatz nach Möglichkeit den ersten Kilometer im selben Takt, wie den Letzten zu wandern.
Nach der einer ersten kurzen Sitzpause bei Kilometer 33 in Mannweiler (Dank an den hervorragenden örtlichen Metzger mit der genialen Leberwurst) geht es bei mittlerweile 28 Grad und wolkenlosem Himmel durch die Kornkammer der Naheregion. Teilweise steht die Hitze in den bereits abgemähten Feldern. Augenfällig auch die viel zu früh eingesetzte Verfärbung der Wälder, dank der diesjährigen niederschlagsarmen Sommerzeit. Auch wenn bei den häufigen Steilabstiegen viele Körner gelassen werden, entschädigen die ausgezeichneten Panoramablicke. Nachdem insgesamt elf Kontrollstellen passiert wurden, erreiche ich nach 10 Stunden und 50 Minuten, dem Konsum von acht Litern (!) Tee und Wasser, dem Verzehr zweier Bananen, einem ausgezeichneten Leberwurstbrötchen und zweier Schokoladenriegel nach exakt 60 Kilometern den Ausgangsort, schmerz- und blasenfrei aber schon etwas kreuzlahm.
Sicherlich, keine Wanderung im klassischen Sinn, dort wo mehr das Eintauchen in die Region im Vordergrund steht, jedoch ein sportlicher Leistungsmarsch, der Gelegenheit bietet die Kondition zu stählen für die nächsten geplanten und ungeplanten Herausforderungen. In Erweiterung der Eingangs angeführten Begriffsdefinitionen sei noch die Begrifflichkeit Eilmarsch herauszuarbeiten. Als Eilmarsch (veraltet auch Gewaltmarsch) bezeichnete man Truppenverlagerungen der Infantrie wie beispielsweise die französischen Truppenverlagerungen 1805 Richtung Austerlitz um 120 Kilometer innerhalb von 50 Stunden – und das mit Tornister, Schießprügel und ohne High-Tec-Schlappen mit Vibrambesohlung. Noch heute haben einige Verbände verschärfte Eilmarschanforderungen an ihre Soldaten. US-Einzelkämpfer haben 7 Kilometer mit 20 Kilo-Gepäck in 52 Minuten zu absolvieren, die Schweizer Kollegen 25 Kilometer mit 25 Kilo Gerödel in 3,5 Stunden. Getoppt wird das ganze durch einen Fliegereilmarsch. Hier überholt eine Zug einer Einheit jeweils die anderen im Laufschritt und setzt sich an die Spitze der Marschkolonne. Sobald diese die Spitze erreicht startet die nächste Einheit um sich an die Spitze zu setzen. Unter diesen Aspekten war die Nahe-Veranstaltung ein bemerkenswerter Spaziergang – Marschgepäckfrei, mit einer ausreichenden Anzahl von Verpflegungsstellen inclusive Leberwurtsbrötchen unterlegt mit einer guten Wegekennzeichnung – komfortables betreutes Wandern eben.
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