Mainz/Wiesbaden 19. Dezember 2015.
8 Stunden 8 Minuten – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang verschärfte Bedingungen für eine Langstreckenwanderung bei gemischten Wetterverhältnissen. Startpunkt ist der Mainzer Bahnhof mit der Zielsetzung auf historischen römischen Pfaden diesseits des Rheins und auf neuzeitlichen Kulturpfaden jenseits des Rheins die Landeshauptstädte von Hessen und Rheinland-Pfalz zu erkunden.
Zwei Städte, an der Wassergrenze namens Rhein liegend, die unterschiedlicher nicht sein können. Das lebensfrohe Mainz, die alte Römerstadt, die scheinbar 365 Tage von Fußball und Karneval regiert wird und das “Nizza des Nordens“, das mondäne Wiesbaden, ausgestattet mit heißen Quellen und Kasinobetrieb. Gepflegt wird eine gewachsene Städterivalität. Das Beste an Wiesbaden ist der Bus nach Mainz” wissen die Mainzer zu berichten. Verschärft der Ton nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Amerikaner ordneten die Mainzer Vororte rechts des Rheins Mainz-Kastel, Mainz-Kostheim und Mainz-Amöneburg dem Stadtkreis Wiesbaden zu. Übrigens behaupten die Wiesbadener auch umgekehrt, dass das Beste an Mainz der Bus nach Wiesbaden sei.
Wie eine Stadt tickt, lässt sich am besten ergründen wenn man zeitig startet. Eineinhalb Stunden vor Sonnenaufgang geht es via Binger Straße zum bedeutensten neuzeitlichen Kulturdenkmal von Mainz, den Fastnachtsbrunnen am Schillerplatz. Normal ist dieser Brunnen nicht. Inmitten eines Wasserbeckens richtet sich ein knapp neun Meter hoher Turm auf, in dem über 200 bronzene Figuren und sinnbildliche Darstellungen miteinander verwoben sind. Die Stadtgöttin Moguntia, Vater Rhein mit Tochter Mosel, Till Eulenspiegel, der Narr Bajazz mit seiner Laterne, der Mann mit dem Brett vor dem Kopf, der Kater am Aschermittwoch, Hanswurst, Schwellköpp, Weck, Worscht un Woi und und und … So tront er inmitten des noch schlafenden Weihnachtsmarktes mit blauer Farbe illuminiert. Vorbei geht es an der Bastian Martin und Philipp zur Grüngürtelpromenade Römerwall/Drusenwall Richtung Zitadelle. Drusus der römische Feldherr gilt als Begründer des römischen Legionslagers in Mainz und Quell der damit verbundenen städtischen Privilegien. Die mächtige Zitadelle wird umrundet. Am Zitadellenweg hat man einen ausgezeichneten Blick auf die nordöstlich gelegene Mainzer Innenstadt. Hier ist auch das römische Theater zu besichtigen, welches erst 1990 freigelegt wurde und zu römischen Zeiten 10.000 Brot-und-Spiele-Besucher aufnahm.
Just-in-time zum Sonnenaufgang wird das Rheinufer erreicht. Entlang des Politiker-Areals Stresemann- und Adenauerufer geht es über die Theodor-Heuss-Brücke. Mitten durch die Brücke verläuft die Grenze der beiden Bundesländer. Am Flußufer des Rheins entlang geht es zunächst durch die Industriebastion der Wiesbadener Vororte. Namhafte Unternehmensfamilien wie Dyckerhoff und Kalle haben hier Industriegeschichte geschrieben. Alleine mit der Besichtigung der hier ansässigen Industriebauten könnte man Stunden verbringen. Hier empfiehlt es sich in Folgeexkursionen durchaus die Route der Industriekultur, die von Bingen bis nach Miltenburg führt und über 700 Bauwerke und Ensembles umfasst, eingehender zu studieren.
Weiter geht es zur guten Stube von Wiesbaden, dem dreiflügeligen Barockbau Schloß Biebrich. Hier hält der hessische Ministerpräsident gerne seine Staatsempfänge ab. Für das gemeine Volk ist eine Besichtigung nur eingeschränkt möglich. Bleibt die Schloßumrundung und der Gang durch den sich anschließenden Schloßpark, der zu Pfingsten für ein internationales Reitturnier okupiert wird. Die Mainzer Nachbarn hätten hier sicherlich zwei Fußballtore installiert, analog des Bolzplatzes an der Mainzer Zitadelle.
Den Schloßpark querend und unter die A66 durch geht es zur Wiesbadener Drususstraße, vorbei an der 1960 in einem ungewöhnlichen Stil errichteten Heilig-Geist-Kirche. Der Sakralbau hat die Form einer auf beide Schenkel gestellten Parabel – ein großes Gewölbe, das schalenförmig in den Altarraum mündet. Überzogen ist das Ganze mit einem Kupfermantel. Hier am Kupferberg (Henkell läßt grüßen) hat man einen markanten Ausblick auf Wiesbaden. Im Vordergrund geduckt die Wölbungen der großen Bahnhofshalle – auf der gegenüberliegenden Seite die Russische Kapelle am Neroberg. Stets abwärts gehend geht es vorbei an der imposanten Sankt-Bonifatius-Kirche in die Innenstadt. Prada-Handtaschen flanierende Damen bestimmen das Szenenbild entlang der Einkaufsmeilen. Am Weihnachtsmarkt der direkt am Marktplatz aufgebaut ist hat bereits die Prosecco-Gesellschaft aus dem Vorderen Taunus die Regie übernommen. Unterdess wird am Mainzer Fastnachtsbrunnen sicherlich der erste Glühwein in einem etwas rustikaleren Ambiente gezogen. So nah die Städte – so unterschiedlich die Außenwirkung. Mittlerweile sind 20 Kilometer zurückgelegt und pünktlich zur Öffnung des Wiesbadener Ratskellers um 11.00 Uhr ist es Zeit für eine ausgedehnte Brotzeit. Im Ausschank das Bier vom Heiligen Berg in Andechs – allemal Wert für eine ausdrückliche Empfehlung.
Frisch gestärkt geht es zügig durch die Wiesbadener Innenstadt, dort wo sich Menschenmassen im Konsumrausch des vierten Adventswochenendes durch die Einkaufstraßen quälen.Hinauf geht es zur Heidenmauer, das ältesten noch erhaltenen Bauwerks Wiesbaden und das bekannteste römische Denkmal der Landeshauptstadt. Über den Verbindungsbogen zum Kaiser-Friedrich-Bad geht es via Hirschgraben vorbei an zahllosen klassizistischen Bauten über die Nerostraße zum Kochbrunnen – der bekanntesten Thermalquelle der Stadt. 66 Grad – auch nicht für leicht unterkühlte Hände zu empfehlen..
Das Wasser , riecht schwach nach Schwefelwasserstoff und schmeckt stark salzig. Es ist klar, trübt aber nach 24 Stunden unter Luftzutritt gelblich ein. Glücklicherweise bezieht der Klosterbräu Andechs nicht aus dieser Quelle seinen liquiden Grundstoff. Die Wasserhauptmenge der Therme wird in die Aufbereitungsanlage in das Kaiser-Friedrich-Bad geleitet. Von dort gelangt es in das weit verzweigte Thermalwassernetz der Stadt, zur Beheizung des Wiesbadener Rathauses, der Wohnungen im Palasthotel und des „Weberhofs“.
Der weitere Wegeverlauf führt in die Upper-Class der Wiesbadener Welt. Obschon mit Hanwags-Wanderstiefel ausgestattet. öffnet in einem vollendeten Service der livrierte Portier des Nassauer Hofes die Türe der heiligen Hallen. Ein stilvolles Haus strategisch günstig gelegen gegenüber dem mondänen Kurhaus nebst Kasinobetrieb. Gegenüber empfiehlt es sich die mit 129 Meter längste Säulenhalle in Europa, die Kurhauskolonnade zu durchschreiten. Hinter dem Theater ist ein kleiner Weihnachtsmarkt in einem gehobenen Ambiente aufgebaut. Hier macht sich auch die exponierte Lage zur Wiesbadener Prachtstraße, der Wilhelmstraße bemerkbar. Gut betuchtes internationales Publikum ist hier gerne gesehen.
Via Hauptbahnhof geht es zurück über die lange Biebricher Allee hinab zum Rheinufer. Diesmal wird Rheinland-Pfalz über die Kaiserbrücke verlassen.Hinauf geht es zum Judensand, dem ältesten jüdischen Friedhof. Der älteste hier erhaltene Grabstein datiert aus dem Jahre 1049. Vorbei am Areal des Bruchwegstadions führt der Weg zum Mainzer Hauptfriedhof. Beeindruckend für stadthistorisch Interessierte sind die historischen Gruften Mausoleen und Gedenksteinen verschiedenster Kulturkreise. Zurück Richtung Bahnhof geht es auf historischen Pfaden entlang der Römersteine, dort wo 68 vor Christus ein bis zu 30 Meter hohes und neun Kilometer langes Äquadukt für die Mainzer Wasserversorgung gebaut wurde. Hier überspannte das Aquädukt in zweireihiger Bogenkonstruktion und mit bis zu 25 m Höhe einen Talgrund. Sichtbar sind heute noch die Überreste von 69 Pfeilern aus römischem Zement.
Nach 39 Kilometern geht eine außergewöhnliche Städteexkursion zu Ende. Außergewöhnlich die Jahreszeit für solch eine Exkursion, außergewöhnlich die vielschichtigen Eindrücke in den beiden Landeshauptstädten, außergewöhnlich die geballten Impressionen mit all ihren Unterschiedlichkeiten, die auf Ihre Weise reizvolle Ansätze bieten, noch intensiver ergründet zu werden.
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