“Darmstadt steht bei Fremden im Rufe, langweilig und steif zu sein”, schrieb Georg Volk in seinem in 1900 erschienenen Buch “Der Odenwald und seine Nachbargebiete”. 111 Jahre später wurde Darmstadt im Buch “Der Abreiseführer: 88 Städte, die sie unbedingt verlassen sollten” gelistet. Die verheerende Brandnacht im September 1944, zerstörte seinerseits 99% der Altstadt. Zahlreiche Bausünden in den Nachkriegsjahrzehnten führten dazu, dass sich die Stadtmitte nicht gerade zu einer innenstädtischen Perle entwickelte. Selbst in aktuellen Stadtführerm tut man sich schwer einen zusammenhängenden roten Faden herauszuarbeiten. Grund genug im Rahmen einer Erkundungstour die wahren Schätze der südhessischen Großstadt zu heben.
Neben München entwickelte sich Darmstadt um 1900 zum Zentrum des deutschen Jugendstils. Vielschichtig sind die Spuren die “Art noveau” in der ehemaligen Residenzstadt hinterlies. Gestartet wird am Jugendstilbad, welches in 2005 aufwändig restauriert wurde und mit einem Sonderpreis für die Belebung historischer Badekultur ausgezeichnet wurde. Schon von außen sind die typischen Jugendstilelemente zu erkennen.
Vom Badehaus geht es weiter zur innerstädtischen Badewanne, dem Woog. Das ehemalige Wasserreservoir wird seit über 100 Jahren als Freibad genutzt. Bereits Goethe soll hier nochmals 100 Jahre zuvor in diesem Gewässer nackt gebadet haben. Weiter geht es Richtung Paulusviertel, vorbei am Alten Friedhof, dort wo historisch und künstlerisch bedeutsame Grabstätten des 19. und 20. Jahrhunderts zu besichtigen sind.
Im Paulusviertel entdeckt man immer wieder historische Bauten, teilweise aufwändig restauriert, teilweise marode mit herrlichen Jugendstilelementen. Besonders markant ist der Paulusplatz mit der dort angesiedelten Pauluskirche.
Das Paulusviertel alles in allem ein sehenswertes Viertel mit einer Vielzahl architektonischer Impressionen. Beeindruckend insbesondere der Niebergallweg mit seiner Plantanenallee und sehenswerten Häusern aus der Jugendstilzeit. Hier zeigt Darmstadt sein wahres Gesicht. Weiter führt der Weg vorbei am jüdischen Friedhof, der bereits seit 1680 hier angesiedelt ist.
Offenkundig, dass Bessungen zum großen Teil von der verheerenden Zerstörung Darmstadts verschont blieb. Das schon vermutlich im 5. Jahrhundert von den Alemannen gegründete Areal erlebte seine Blüte im 18. Jahrhundert, als Darmstadt zur Residenzstadt aufstieg. Prachtvolle Anlagen, wie beispielsweise die Orangerie mit dem angrenzenden Barockgarten sind heute noch sichtbare Zeugen der Vergangenheit.
Auf Partisanenpfaden geht es entlang der verlassenen Cambrai-Fritsch-Kaserne, hinauf auf den Haushügel der Darmstädter, die Ludwigshöhe. Vom höchstgelegen Punkt Darmstadts (246 m) hat man an klaren Tagen einen fantastischen Blick auf die Rheinebene, den Taunus und nach Frankfurt
Empfehlenswert ist in diesem Areal auch die Besichtigung des Waldkunstpfades. In regelmäßigen Abständen lädt der Verein für Internationale Waldkunst zu Veranstaltungen und Ausstellungen im Waldgebiet ein. Am altehrwürdigen Jugendstilbau Marienhospital vorbei geht es Richtung Böllenfalltor, dort wo der SV 98 der in den besten Zeiten in der Bundesliga spielte, weiter Richtung Lichtwiese, dem Campus der Technischen Universität. Ob Lichtenberg, Justus von Liebig oder Georg Büchner. Darmstadt ist bekannt als internationaler Think-Tank. Paradefakultäten sind dabei Maschinenbau und Architektur.
Vorbei am Vivarium, dem Darmstädter Zoo der mit dem Prädikat klein aber fein behaftet ist, geht es entlang des sehenswerten Botanischen Gartens, die B 26 querend, in östlicher Richtung weiter. Verkehrstechnisch gesehen ist Darmstadt grenzwertig. Der Ostkreis ist regelrecht abgeschnitten von den westlich gelegenen Autobahnzubringern, was zu einer immens hohen Verkehrsbelastung in der Innenstadt führt, ein Aspekt der auch das negativ belegte innerstädische Bild prägt.
Bemerkenswert der Ostbahnhof, ein ziegelgefülltes Fachwerkgebäude erinnert nach Einschätzung der Denkmaltopographie an einen Bahnhof in der russischen Taiga. Vis a vis befindet sich die Rosenhöhe, ein prächtiger, im englischen Stil angelegter Landschaftsgarten, dort wo Ernst Ludwigs großherzliche Familie ihre letzte Ruhestätte inne hat. Markant das mächtige Löwentor. Alleine das Umfeld des Rosengartens einschließlich Künstlerkolonie, Teehäuschen, Spanischer Turm, Rosenzuchtanlage lohnt für eine halbtägige Besichtigung. Hinaus in das Naherholungsgebiet Oberfeld geht es weiter zum Steinbrücker Teich, dort wo am Oberwaldhaus, ein Freizeitareal für Jung und Alt, zum längeren Verweilen einlädt. Die Dieburger Straße querend geht es zum Jagdschloß Kranichstein am Backhausteich. Der barocke Jägerhof wurde bereits 1578 für den Landgrafen Georg errichtet und beherbergt heute neben dem Jagdmuseum ein Hotel und ein Restaurant.
Gegenüber des Jagdschlosses hat der Darmstädter Reitverein eine stattliche Anlage, die gequert wird. Die in den 60er Jahren entstandene Trabantenstadt Kranichstein hat sich mittlerweile zu einem aufstrebenden Viertel mit einem architektonisch interessanten Wohnbaugebiet mit Passivhäusern und Modellhäusern der TU entwickelt. Südlich der Haardtkolinie ist das nächste Ziel die Weltfirma Merck. Darmstadt ein angesehener Standort für Firmen mit Weltruf. Ob die Plexiglasschmiede Röhm, nun Evonik, oder Flüssigkeitskristallerfinder Merck, die Europäische Raumfahrtbehörde ESOC oder EUMETSAT in Darmstadt, um nur einige Beispiele zu nennen, überzeugend der Standortvorteil im Herzen des Rhein-Main-Gebietes, die Anbindung zum Frankfurter Flughafen und die prosperierende wirtschaftliche Entwicklung.
Am Nordbahnhof geht es entlang des Bürgerparks zu einem weiteren Highlight der Stadt. Das 1998 errichtete Hundertwasserhaus, die Waldspirale, hat sich mittlerweile zu einem wahren Besuchermagnet entwickelt. Über das Martinsviertel, dort wo noch manch ein städtebauliches Kleinord zu entdecken ist, geht es hinauf zur besten Stube der Stadt, die Mathildenhöhe. Ob Hochzeitsturm, Russische Kapelle, Olbrichts Prachtbauten, die Künstlerkolonie, der Plantanenpark – der kultur- und kunstinteressierte Besucher kann hier ein tagesfüllendes Programm absolvieren. Zu Recht ist man in Darmstadt damit beschäftigt die Aufnahme als UNESCO-Weltkulturerbe zu beantragen.
Nachhaltigst beeindruckt führt der Weg zurück in die Innenstadt, vorbei an einem gewagten Bau, dem Darmstadtium. Außergewöhnlich wie der Name ist das gesamte Objekt, und sicherlich ein signifikantes Mosaiksteinchen für die gelebte Baukultur in der südhessischen Stadt. Vorbei am Mathildenplatz dort wo sich Schloß, Museum, Mollerbau und Darmstadtium begegnen geht es weiter durch Darmstadts älteste Parkanlage, den Herrengarten, via Prinz-Georgs-Garten mit Blick auf die prägnante St. Elisabethkirche Richtung Westen durch das Johannisviertel. Entlang herrlicher Gründerzeitfassaden ist der Johannisplatz nebst Kirche sicherlich ein lohnenswertes Viertel, welches entdeckt werden will.
Zankapfel Darmstadtium
Den Innenstadtbereich verlassend geht es weiter zum Darmstädter Hauptbahnhof. Allemal beeindruckend ist die Jugendstildecke der Haupthalle, für die meisten Reisenden sicherlich ein Aspekt, der keine Beachtung findet. Bemerkenswert auch der hinter dem Bahnhof stehende Wasserturm, der mittlerweile für Kulturveranstaltungen genutzt wird. Westlich des Bahnhofs geht es durch Industriegebiet zum Hochsicherheitstrakt der European Space Operations Centre ESOC, das Kontrollzentrum der Europäischen Raumfahrtindustrie. Unterhalb der Waldkolonie führt der Weg zum Waldfriedhof . Mächtig und beindruckend das Eingangsportal. In der weitläufigen Ruhestätte sind 12.000 Darmstädter, die in der Brandnacht 1944 umkamen, in einem Massengrab beerdigt.
Vom Ort der Stille zurück in das pulsierende Leben. Den Autobahnzubringer B 26 querend geht es durch Telekom-City, dem zweitgrößten Standort des Telekommunikationsunternehmens durch die Heimstättensiedlung. Entlang des Heimstättenweges führt der Weg nach Bessungen durch den Prinz-Emil-Garten hinein in den innerstädtischen Nuklus.
Vorbei am Theater mit einem avantgadistisch gestalteten Vorplatz vor der imposanten Kuppelkirche, im Volksmund “Käsglocke” genannt, geht es vorbei an einigen innerstädtischen Bausünden zum Zentrum der Stadt, dort wo der 5 Meter Lange Ludwig seit 1844 auf einem 34 Meter hohen Sockel tront. Vorbei am Weißen Turm, ein Wahrzeichen der Stadt, geht es zum Marktplatz, dort wo das schmucke Alte Rathaus gegenüber dem Schloss den weitläufigen Platz beherrscht.
Theaterplatz
Vom Marktplatz aus geht es zurück zum Ausgangsort zum Jugendstilbad, vorbei an den Resten der alten Stadtmauer, dort wo der Hinkelsturm als letzte Bastion in den Himmel ragt.
“Darmstadt steht bei Fremden im Rufe, langweilig und steif zu sein”, schrieb Georg Volk in seinem in 1900 erschienen Buch “Der Odenwald und seine Nachbargebiete”. “Wer die freundliche Stadt mit ihren vielerlei Sehenswürdigkeiten, ihren schönen neuen Teilen, ihren hübschen Anlagen, ihrem regen geistigen Leben aber genauer kennt, der muß jenes Vorurteil für unbegründet erklären.”, so der Autor in seinen weiteren Ausführungen.
Sicherlich Darmstadt ist keine Stadt die der Durchreisende sofort in das Herz schließt. Eine fehlende prägende homogene innerstädtische Baustruktur, behaftet mit einer Vielzahl von Bausünden belastet den ersten Eindruck. Die Perlen der Stadt wollen entdeckt werden, nicht immer einfach, aber darstellbar. Knapp 44 Kilometer waren erforderlich um Darmstadt am Stück intensiv zu erleben und Anregungen für vertiefende Erkundungen zu holen. Allemal ein lohnendes Invest.
Sehr schön, vielen Dank!