Berlin im Juni 2020 – Sie war das Symbol des Kalten Krieges. Durch das Politbüro der SED als “antifaschistischer Schutzwall” deklariert, durch den West-Berliner Senat als “Schandmauer” identifiziert und für mindestens 136 Menschen als Todesmauer endend – die Berliner Mauer. Gemauerte Symbolik einer Nachkriegsweltordnung – ein bitterer Preis, der Deutschland 28 Jahre spaltete, Leid und Opfer mit sich brachte. Nach dem Mauerfall war es engagierten Umwelt- und Naturschützern, dem Fahrradclub ADFC, Denkmalschützern und vorausschauenden Politikern zu verdanken, die Freiräume am unbebauten Mauerstreifen zu renaturieren, um den ehemaligen Postenweg der DDR-Grenztruppen als Rad- und Wanderweg zu erschließen. So können heute auf einem Rundweg 160 Kilometer steigungs- und gefahrenlos zu Fuß erkundet werden. Radreiseanbieter offerieren Touren, die für fünf Tage ausgelegt sind, für erfahrene Langstreckenwanderer genügen vier Tage um intensiv in die dunkle Zeit der deutschen Geschichte einzutauchen.
Etappe 1
Kladow-Heiligensee
Einschlägige Mauerwegsführer empfehlen den Einstieg am Berliner Hauptbahnhof, oder am Brandenburger Tour. Es gibt auf dem Rundweg keinen offiziellen Startpunkt, jedoch gibt es sehr gute Gründe diese Tour am Großen Wannsee, fernab von der Betriebsamkeit der Innenstadt zu starten. Friedlich und naturbelassen der Einstieg. Man nähert sich mit Abstand und Respekt dem historisch schwer beladenen Fernwanderweg. Vom Standorthotel in der Innenstadt erreicht man rasch per S-Bahn die Bahnstation Wannsee. Ich nehme die erste Fähre, die bereits um 06.00 Uhr morgens von Wannsee hinüber nach Kladow übersetzt, um zwanzig Minuten später in die erste Etappe des Berliner Mauerweges zu starten. Eine Handvoll Radfahrer auf der Fähre und die üblichen Verdächtigen, die als Hundebesitzer bzw. Jogger die Uferstraße des Wannsees in überschaubarer Frequenz beleben – ansonsten übermantelt eine gepflegte Beschaulichkeit die Havellandschaft. Einladend die Außengastronomie die sich um den Anlegehafen von Alt-Kladow drapiert, bemerkenswert die strandnahen Anwesen entlang des Sakrower Kirchweges und überraschend grün die sich anschließende Strecke, die durch den Königswald führt. Einzig die graue Wegekennzeichnung “Berliner Mauerweg” erinnert an den bevorstehenden Wanderauftrag.
Durch den Königswald erreicht man den bebauten Uferstreifen des Groß Glienicker Sees. Einst verlief die Grenze durch die Mitte des Gewässers. Allemal beeindruckt die ufernahe Bebauung der Seenlandschaft. Am Ortsrand von Groß-Glienicke erinnern erstmals Mauerreste und eine entsprechende Informationstafel an den ehemaligen Grenzverlauf. Vorbei an einem im zweiten Weltkrieg zerstörten Rittergut führt der Mauerweg, just dem ehemaligen Mauerverlauf folgend vorbei an den Rieselfeldern bei Gatow. Hier wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Berliner Abwässer eingepumpt, heute ist das Areal ein Naturschutzgebiet. Vorbei geht am Fort Hahneberg, einer ehemaligen Zitadelle (Umweg kann man sich sparen, da hermetisch abgeriegelt) hinüber nach Staaken, einem ehemaligen geteilten Grenzort.
Staaken – die gespaltene Stadt. Hier war einst eine Grenzübergangsstelle für den Transitverkehr eingerichtet, hier verlier die Mauer mitten durch eine Straße, hier durften DDR-Bürger mit einem Passierschein hinüber zur im Westen gelegen Dorfkirche und noch heute kann man hier die noch nicht verheilten Narben der einstigen Zwangstrennung erkennen.
Es löst schon Betroffenheit aus, mit welcher Brutalität die Errichtung des Grenzwalls vollzogen wurde, welche Konsequenzen es für die ortsansässige Bevölkerung hatte und wieviele Opfer ihr Leben lassen mussten. Auf den nächsten acht asphaltierten Kilometern des Grenzweges, der durch den Forst Spandau führt, hat man Zeit genug diese Eindrücke Revue passieren zu lassen. Nach dreißig Kilometer Mauerweg bietet sich eine Rast am ufernahen Jagdhaus an der Havel an, dort wo bei sommerlichen Temperaturen Badegäste relaxen. Weiter geht es entlang des Nieder Neuendorfer Sees, dort wo heute ein Grenzturm als Mahnmal und Erinnerungsposten an die Mauerzeit erinnert. Nach 41 Kilometern endet die erste Tagespassage an der S-Bahnstation Heiligensee, die am nächsten Morgen Einstiegspunkt für die Folgeetappe sein wird.
Etappe 2
Heiligensee –
Potsdamer Platz
Der zweite Wandertag -die mental anstrengendste Etappe. Geballt die Einschläge der Spaltungshistorie, bewegend die Mahnmale der Vergangenheit, erschütternd die visualisierte Realität der Geschichte. Vom S-Bahnhof Heiligensee, just am ehemaligen Grenzübergang Hennigsdorf gelegen, geht es zunächst hinüber Richtung Frohnau und weiterführend nach Hohen Neuendorf. Der Westrand der Siedlung besteht aus fünfzig dreistöckigen Klinkerbauten, 1937 allsamt als Invalidensiedlung für Versehrte des I. Weltkrieges errichtet. Das Viertel wirkt unnahbar – beim Gang durch die Siedlung geht man innerlich auf Abstand. Einerseits ist man froh das Quartier hinter sich zu lassen, andererseits ernüchtern die kommenden Kilometer. Kilometerlange breite Sandstreifen dokumentieren den ehemaligen Verlauf der Mauer. Der helle feine Sand trügt, hier am Todesstreifen patrollierten einst die Schergen der DDR-Regierung. Als Mahnmal des Schreckens ist am Wachtturm der Deutschen Waldjugend eine umfangreiche Dokumentation der Infrastruktur der Grenzanlagen niedergelegt. Akribisch dokumentiert wurden die stetigen Ausbaustufen der Grenzanlagen.
Reißbrettartig zieht sich der Mauerverlauf zwischen Märkisches Viertel und Wilhelmsruh durch Pankow zum bekanntesten Grenzübergang der Berliner Mauergeschichte. Man schrieb den 9. November 1989 als am Grenzübergang Bornholmer Straße um 23:29 Uhr der stellvertretende Leiter der Grenzübergangsstelle, ein gewissser Harald Jäger, Weltgeschichte schrieb, und den Mumm hatte die Schotten zu öffnen und die Kontrollen einstellte. Der Rest – Geschichte. Vorbei am Mauerpark, dort wo Graffitispezialisten zu Gange sind geht es in das Herz der Gedenkstätte Berliner Mauer, die Bernauer Straße. 1961 spielten sich hier tragische Schicksale ab. Menschen die aus Häuser stürzten, um auf den untenliegenden Bürgersteig, der im Westen lag, zu landen, eine gesprengte Kirche, ein zu Mauerbauzwecken entbetteter Friedhof, ein über den Stacheldraht springender Grenzpolizist.
Der Schlußspurt des Tages führt durch das Regierungsviertel, vorbei am Reichsstag, dem Brandenburger Tor, zum Potsdamer Platz – allsamt Plätze die als Sinnbild für das vereinte Deutschland stehen. 45 Tageskilometer, historisch be- und überladen, schwer verdaulich einerseits, ermutigend andererseits.
Etappe 3
Potsdamer Platz- Lichtenrade
Der dritte Tag: ein Tag des Ausgleichs – Thematisch intensiv die Vortagestour – wegetechnisch gehaltvoll diese Folgetour. Von der Stadtmitte aus geht es zum bekanntesten Grenzübergang der Stadt. Schon der Name klingt cool: Checkpoint Charlie, benannt nach dem internationalen Buchstabieralphabet, als eine von drei durch die Amerikaner genutzen Kontrollpunkte. Unsäglich belastet ist auch dieser Korridor. Hier am Todesstreifen verblutete der Ostberliner Peter Fechter, getroffen von Schüssen der DDR-Grenzposten, Hilfe von der anderen Seite war verboten – die Amerikaner hatten Weisung keinen DDR-Bürger bei der Flucht zu unterstützen. Entlang des luisenstädtischen Kanals geht es zur East Side Gallery an der Mühlenstraße. Hier befindet sich der längste erhaltene Mauerabschnitt, gestaltet, aber auch punktuell verunstaltet, durch Graffitikünstler aus aller Welt. Die markante Oberbaumbrücke querend kreuze ich den Rand von Kreuzberg hinüber nach Neukölln, zwei Viertel die sich auf dem schmalen Grad zwischen Szene- und Problemviertel bewegen.
Hinter Alt-Treptow wird es zäh. Schier endlose Asphalttrassen, die kilometerlang nur eine Richtung kennen: geradeaus, natürlich bestens geeignet für Radler und Skater, formidabel für Jogger und herausfordernd für Langstreckenwanderer. Gefühlt sind 99,8 Prozent Rdfahrer , drei Jogger und ein Wanderer bei hochsommerlichen Temperaturen unterwegs. So gilt es das Fahrwerk auf Automodus zu stellen und Strecke zu machen. Landwehrkanal, Heidekampgraben, Britzer Zweigkanal, Tretowkanal – scheinbar sind mindestens zehn Prozent des Asphaltbedarfs des naheliegenden Geisterflufhafens BER in die hier auf der Strecke befindlichen Asphaltbeplankung geflossen. Ein Lichtblick zwischen Gropiusstadt und Lichtenrade. Parallel zum asphaltierten Mauerweg führt ein bewaldeter fünf Kilometer langer Schneisenpfad nach insgesamt 40 Kilometern zum Tagesendpunkt am Lichtenrader Bahnhof.
Etappe 4
Lichtenrade-Wannsee
Die vierte Etappe- ein angemessener Schlußpunkt. Von Lichtenrade führt die Passage zunächst hinüber nach Lichterfelde, dort wo die längste Kirschbaumallee des Mauerweges von Japanern gestiftet wurde. Die Blütezeit jedoch schon längst vorbei. Der Mauerweg touchiert Teltow und folgt dem Königsweg, der auf einem gut gangbaren Pfad durch den Düppeler Forst führt. Bei Zehlendorf geht es über den zweiten amerikanischen Kontrollpunkt, dem ehemaligen Checkpoint Bravo, auch als Kontrollpunkt Dreilinden bekannt.
Am Griebnitzsee zieht der Mauerweg durch die ufernahe Straße von Babelsberg Nord. Die Wohngegend edel und hochpreisig. Bei Klein Glienicke streift man den Babelsberger Park, der grundsätzlich sehr zu empfehlen, auf diesem Trip jedoch nicht eingepreist ist. So schwenkt der Mauerweg an der weltbekannten Glienicker Brücke, die Potsdam mit Berlin verbindet, Richtung Jungfernsee/Wannsee ein.
Im Glienicker Park könnte man der Königstraße folgen, um geradeaus auf den S-Bahnhof Wannsee zuzusteuern. Jedoch das Auge wandert mit. Statt der kerzengeraden Waldpassage bietet sich eine ufernahe Wanderung auf guten Wegen an. Nach einer Zwischenstation im Biergarten der Moorlake geht es via a vis der Pfaueninsel entlang der Uferböschung des Düppeler Forstes. Ein Blick hinüber nach Kladow, dort wo ich vor drei Tagen eingestiegen bin. Nach vier außergewöhnlichenPassagen, 161 Kilometer und bemerkenswerten 595 Höhenmetern auf der Gesamtstrecke ist Wannsee wieder erreicht. Am Bootshaus Seehaase bietet sich eine stilgerechte Einkehr einschließlich eine der Etikette (aber nur) entsprechenden Berliner Weiße an.
Der Berliner Mauerweg – 160 geballte Kilometer – hochgradig zu empfehlen für Alle die fernab der Berliner Dunstglocke in der bundesdeutschen Komfortzone leben durften und wenig bis keine Berührung zu diesem historischen Meilenstein unseres Landes hatten. Diese außergewöhnliche Strecke gehört im Regelfall auf die Bucket-List eines Langstreckenwanderers. Man sollte allerdings Zeit und Muse aufbringen sich mit der Geschichte Berlins auseinander zu setzen. Vier Tage genügen um die Strecke in tageslichttaugliche Häppchen zu entdecken. Hervorragend dabei die Infrastruktur des öffentlichen Verkehrsnetzes. Dank App der Berliner Verkehrsgesellschaften ist eine flexible Steuerung der An- und Abfahrt einschließlich Ticketbuchung unproblematisch. Hervorzuheben ist auch die grundsätzliche Sauberkeit der eingesetzten Verkehrsmittel – hier kann sich manche Stadt eine große Scheibe abschneiden. Ein thematischer Nachschlag? Das Grüne Band! 1.400 km von Tschechien bis zur Ostsee – 60 Etappen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze – der nächste Eintrag in die Bucket-Liste……..
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