24 Stunden Potsdam Haveland 2015

Caputh, den 09. Oktober 2015

Kaputt waren schon Einige. Brennende Füße, Blasenherde, ziehende Muskel, schwere Beine, Rücken – aber zumeist glücklich die Gesichter bei den Extremwanderern, die in 24 Stunden 100 Kilometer im Havelland erfolgreich absolviert hatten. Caputh selbst 12 Punkte – Höchstnote nach der Grand-Prix-Eurovision-Wertung für ein bemerkenswertes und  außergewöhnliches Wanderevent.

Caputh, mutmaßlich aus dem Slawischen abgeleitet (Huf – und daher Hufform des Caputher Sees beschreibend), zur Gemeinde Schwielowsee gehörend, und unmittelbar vor den Toren Potsdam gelegen, war Ausrichter der ersten 24-Stunden-Potsdam-Havelland-Wanderung gewesen. Als Veranstalter zeichnete dabei der Heimatverein Petzow e.V. verantwortlich. Dank der umtriebigen Wanderexpertin Petra Rauschenbach, die nebenbei auch Wolfswanderungen durch das Brandenburger Wolfsgebiet anbietet, und dem Chef-Organisator „Kalle“ Karl-Heinz-Friedrich, ist es mit Unterstützung vieler Helfer gelungen, eine bestens organisierte Wanderveranstaltung auf die Beine zu stellen. Mit 10 – 20 – 50 – und 100 Kilometern wurden insgesamt vier geführte Wanderungen für unterschiedliche Zielgruppen angeboten. Für die Königsdisziplin, dem 100 Kilometer-Trail, lagen 85 Anmeldungen vor, wobei 67 zum Start antraten, da Einige noch kurzfristig auf eine überschaubarere Distanz umbuchten oder nicht antraten.

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Willkommen in Caputh

Auch wenn der Oktober mit 11 Stunden Dunkelheit nicht allzu optimal für eine 24-Stunden-Wanderung ist, waren die Rahmenbedingungen ideal. 11 Stunden Sonne pur bei 10 Grad in der Spitze, strahlend blauer Himmel, tagsüber ein gemäßigter Ostwindeintrag, eine markant einsetzende Einfärbung des Herbstlaubes, ringsherum eine prachtvolle Seen- und Parklandschaft und entlang der Tagestrecke eine Reizüberflutung an kulturhistorischen Bauten und Monumente.

Kurz vor dem Start um 09.00 am Caputher Schloß war die  Betriebsamkeit am gegenüberliegenden Startpunkt groß. Unter den Langstreckenwanderern wurde emsig diskutiert, die Winterausrüstung im Rucksack sortiert, über den Zeitpunkt des Einsatzes langer Unterhosen schwadroniert, Blasenpflaster in Griffweite gelegt, Kaffee eingeflößt und das unterschiedliche Schuhwerk der Protagonisten begutachtet. Angesichts des flachen Geländes, und des in toto doch hohen Asphaltanteils, entschieden sich die meisten Teilnehmer für Sportschuhe mit unterschiedlichster Besockung. Von dünnen Lauf- bis dicken Wandersocken in den Sportschuhen – jedwede Kombination war vertreten. Unterrepräsentiert die Fraktion, die mit knöchelhohen Wanderschuhen antrat – blasentechnisch abgerechnet wurde zum Schluss.

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Zwei kampferprobte Masterwalker, die bereits die Horizontale in Jena absolviert haben, bei der Anmeldung

Pünktlich um 09.00 Uhr eröffnete eine sichtlich erleichterte Petra Rauschenbach die Veranstaltung. Nach dem Grußwort der sympathischen Bürgermeisterin  Kerstin Hoppe, die es sich nicht nehmen ließ, die 24-Stundenwalker 50 Kilometer lang zu begleiten (!), startete zunächst der 100-Kilometer-Trupp, begleitet von insgesamt fünf Guides. Die beiden Pathmaker, Isgard und Erich  hatten dabei die herausfordernde Aufgabe übernommen mit einem kalkulierten Schritt von 5,3 km/h die Schlagzahl auf einem hohen Level zu halten, um das gesteckte Ziel, 100 Kilometer in 24 Stunden zu absolvieren, erfolgreich zu meistern. Eingeplant waren zudem acht Pausen mit 290 Pausenminuten, davon drei einstündige Großpausen, mit jeweils warmer Verpflegung. Organisatorisch bestens durchgeplant der begleitende Shuttleservice für Aussteiger und Notfälle, und der flankierende Pausenstationsservice, in den tiefsten Nacht- und in den frühen Morgenstunden flankierend unterstützt von einheimischen Feuerwehrkameraden.

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Begrüßung durch die Organisatorin Petra Rauschenbach (l) und Bürgermeisterin Kerstin Hoppe (r) , die locker die Hälfte der 100-Kilometer-Distanz absolvierte!
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Noch strahlen die Gesichter der 100-Kilometer-Aspiranten

Vom Caputher Schloß ging es zunächst ostwärts, vorbei an Einstein,s Sommerhaus, der hier gerne und immerhin vier Jahre seiner Zeit an der seenreichen Region verbrachte. Sympathisch auch der Slogan „Geld allein macht nicht glücklich – trinkt Bier!“ der Braumanufaktur Potsdam im Forsthaus Templin, an welchem wir unterhalb vorbeiliefen. Parallel zum Templiner See führte der erste Abschnitt der Wanderung zunächst auf die Halbinsel Hermannswerder, vorbei an den mächtigen Backsteinbauarealen der dort ansässigen Schulen. Interessante Villen und denkmalgeschützte Objekte prägen das Erscheinungsbild der sich anschließenden Siedlung.

Mit Blick auf die gegenüberliegende Potsdamer Innenstadt ging es weiter Richtung Hauptbahnhof Potsdam, entlang der Havel hinein in den am Tiefen See gelegenen Park Babelsberg. Reich die Geschichte des mittlerweile 115 Hektar großen Parks, dessen Grundstock Prinz Wilhelm 1833 legte. Neben den ausladend gestalteten Landschaftsgärten begeisterten markante Backsteinbauten entlang des Weges. Ob Gerichtslaube, das Dampfmaschinenhaus oder der dem Frankfurter Eschenheimer Torturm nachempfundene Flatowturm, an jeder Ecke des Parks ist Baukunst des 19. Jahrhunderts sicht- und erlebbar.

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Vorbei an Einsteins Sommerresidenz in Caputh
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Ein Kurzanstieg zu Anbeginn im ansonsten flachen Havelland
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Der ehemalige Wasserturm auf der Halbinsel Hermannswerder
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Blick über den Templiner See zur Innenstadt Potsdam
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Elanvoll geht es hinab zum Uferareal der Havel
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Blick auf die Nikolaikirche am Alten Markt
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Gut beraten wer hier einen Bootsführerschein hat

Besonders markant das im gotisch-englischen Stil errichtete Schloß Babelsberg. Sascha, ein junger Mann, der jüngst aus  Hamburg nach Berlin zurückgezogen ist und erstmals bei einer 100 Kilometer langen Wanderung dabei war, zeigte sich erstaunt und überrascht über die Vielschichtigkeit seiner alten Heimat, die er nun wiederentdeckt. Mitwanderin Ria, eine gebürtige Rheinland-Pfälzerin die sich in dieser Region niedergelassen hat, berichtete aus ihrem profunden Erfahrungsschatz vom überragenden Baumeister Schinkel der als universeller Künstler seiner Zeit galt und mit seiner unverwechselbar klaren Formensprache die Architektur prägte. Nebenbei für den geneigten Leser – solche Begegnungen mit Mitwanderern sind das Salz in der Suppe und eine absolute Bereicherung derartiger Wanderexkursionen.

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Hinauf zum Flatowturm im Park Babelsberg
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Die Gerichtslaube im Park Babelsberg
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Das mächtige Schloß Babelsberg
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Parkimpression mit Blick auf die Glienicker Brücke
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Das alte Dampfmaschinenhaus
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Keine schlechte Wohnlage am Park

Mit fortschreitender Stunde entwickelte sich ein  unglaubliches Szenario. Eine prachtvolle Parklandschaft, überzogen mit der Farbenvielfalt der bunten Herbstbäume, tiefblauer wolkenloser Himmel, ein Postkartenmotiv nach dem anderen entlang der Strecke. Ich sinierte mit Mitwanderern darüber, ob es nicht angemessen wäre pro Kilometer/Teilnehmer einen Euro Kurtaxe einzutreiben. Entlang eines Teilabschnittes des insgesamt 160 Kilometer langen Berliner Mauerweges ging es zur Mittagsstation, dem Schloß Glienicke. Edel schon der Eingangsbereich der mit zwei goldenen Löwen bewehrten Eingangspforte. Edel das Ambiente des angeschlossenen Restaurant Remise. Edel wie stilvoll wir empfangen wurden. Livrierte Kellner hielten die Türen auf, um die Wanderschar in die dekorierten Räumlichkeiten einzulassen. Dort wo üblicherweise Gäste in feinen Zwirn speisen, wurden die mit Rucksack bewaffneten und schon angeschwitzten Wanderfreunde freundlich und zuvorkommend empfangen. Nach dem Mittagessen war noch Zeit für eine kurze Rast im sonnendurchfluteten Außenbereich. Eine Mitwanderin sattelte um auf kurze Hose – Handschuhe und Wollkappe wurden wetteradjustiert weiter unten im Rucksack verstaut.

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Ein Teilabschnitt führt entlang des Berliner Mauerweges
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Willkommen im Schloßpark Glienicke
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Mittagsrast in der Glienicke-Remise
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Stilvoller Empfang zur Mittagsrast
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Mittagsjause bei flotten Dixieland-Rythmen
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Fein eingedeckt für die Langstreckenwanderer
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und stilvoll wird die Gulaschsuppe kredenzt
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Auch in der Pause – immer locker machen….
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Zwei holländische Wanderfreunde gebürtig aus Amsterdam kommend
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Die Einen relaxen  an der sonnigen Hofterrasse…
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Die Anderen präparieren…
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…und dehnen sich
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Hoiii es wird Sommer…..
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Der Allerschönste…. Cheforganisator Kalle hat alles im Griff
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Blick vom Weg zum Wassertor auf den Klosterhof

Die Glienicker Brücke querend führte der weitere Wegverlauf entlang historischer Villen im Potsdamer Ortsteil Berliner Vorstadt, vorbei an der fensterlosen Eremitage. Gegenüber sichtbar das Schloß Cecilienhof, dort wo das Potsdamer Abkommen unterzeichnet wurde und ein gewisser Trumann seinerseits im Beisein von Churchill und Stalin den telefonischen Befehl zum Abwurf der Atombombe auf Hiroshima erteilte.  Dahinterliegend das weitläufige Grünareal der Nördlichen Vorstadt.  An Schloß Belvedere ging es weiter durch den Wiesenpark zum Ruinenberg. Zur Bewässerung der Fontänen im gegenüberliegenden  Park Sanssouci ließ Friedrich der Große auf dieser Kuppe ein Wasserreservoir bauen und mit künstlichen Ruinen als antikes Gestaltungselement  versehen.

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Die Glienicker Brücke die Berlin und Potsdam verbindet und berühmt wurde durch zahlreiche Ost-West-Agentenaustausche
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…und unter der Brücke herrscht reger Segelbetrieb im Oktober
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und von der Brücke geht es wieder hinein nach Potsdam
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..vorbei an einem ehemaligen Mauerstück
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Kaiserliche Matrosenstation Kongsnaes Potsdam – eine norwegische Visitenkarte an der Havel
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und immer wieder herrliche Blicke auf die Fluß- und Seenlandschaft
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Vorbei an der fensterlosen Eremitage
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Leider ziehen wir an dieser herrlichen Stätte vorbei…
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Auch Wein wurde hier angebaut
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Prachtbauten entlang des Weges wie hier die Villa Schöningen
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und nebenan Schloß Belvedere auf dem Pfingstberg
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…und gegenüber romantische Gartenanlagen

Ein Kulturobjekt folgt nach dem anderen. Immens die Dichte kulturhistorischer Stätten und es waren gerade einmal 25 Kilometer zurückgelegt. Den Bornstedter See umrundend erhöhte sich  schlagartig die Dichte der Menschenmassen. Kein Wunder, ein großer Park mit einem sehr großen Schloß lag vor uns. Schloß Sansoucci mit den ausladenden Weinterrassen und dem unten liegenden Lustgarten war erreicht. Strahlender Sonnenschein und ein leuchtend blauer Himmel – ein unbeschreibliches Szenario. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte der Alte Fritz sich ausmalen können, daß 260 Jahre nach Errichtung 67 Wanderer , darunter ein Odenwälder und zwei Holländer, entlang ihrer 100-Kilometerwanderung beeindruckt an diesem unter UNESCO-Weltkulturerbeschutz stehenden Prachtbau vorbeipilgern.

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Das war nicht der Schirmherr der Veranstaltung!
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Ordnung muß sein – die Stöcke bleiben draußen
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und für akute Notfälle ist gegenüber auch noch Platz
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Hinauf geht es zum Ruinenberg
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Kunstvoll arrangierte künstliche Ruinen
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Erst 25 Kilometer absolviert und schon unheimlich viele Eindrücke gesammelt
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Friedrich der Große ergötzte sich an der errichteten Ruinenlandschaft
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In allerbester Kondition, Bürgermeistern Kerstin (l) und Tempomacherin Isgard
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Und eine kurze Tempelpause
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Auch von unten sehr imposant
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Krongut Bornstedt – hier lässt es sich vortrefflichst feiern
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Spuren der Oranjes sind überall sichtbar
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Der nächste touristische Hotspot wirft seine Schatten voraus
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Edelste Gartenanlagen…
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UNESCO-Weltkulturerbe
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..mit Blick auf ein weitreichendes Parkareal
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Schloß Sansoucci

Geplättet von all diesen Eindrücken ging es schurstracks zum Neuen Palais, ein weiteres Beispiel der baulichen Opulenz in dieser Stadt. Nach einigen hundert Metern war Verschnaufpause und Augenschonung am Havelufer angesagt. Einhellig der Tenor – diese vielschichtigen Eindrücke müssen  alle erst einmal in Ruhe verarbeitet werden.

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und  knapp zwei Kilometer durch den Park entfernt das Neue Palais

Entlang des Templiner Sees , vorbei am Olympiastützpunkt und den mächtigen Kongressbauten ging es auf schönen Wegen zum Schiffsanlegerplatz Baumgartenbrück. Hier wurde mit dem Fährschiff  MS Bismarckhöhe zur Havel-Insel Werder übergesetzt. Markant die durch die Heilig-Geist-Kirche und Bockwindmühle geprägte Silhoutte der Insel. Mittlerweile verabschiedete sich die Sonne und während der Fährübersetzung zog ein frischer Wind auf. So kehrten wir gerne in den Bürgerstuben ein, um uns wanderadäquat mit Pasta vor der Nachtwanderung zu stärken.  Bei vielen war unterdess Kleiderwechsel angesagt, bei manch einem Teilnehmer konnte man sich die Frage stellen ob eine Sibirenquerung ansteht. Trotz den Wetterprognosen, daß die Neumondnacht knackig kalt wird und ein auffrischender Ostwind die gefühlte Temperatur auf -4 Grad hinunterdrückt, waren die nächsten Stunden noch relativ mild.

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und immer wieder durch herrliche Alleenstraßen
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Energiebombe Banane – der beste Weg um schnell Energie zu tanken
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Pausenbreak bei knapp 30 Kilometer im Johanniterquartier
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Auch gut – die Hitze muss aus den Schuhen…
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Yachthafen Potsdam in der Nachmittagssonne
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Blick auf den Großen Zernsee
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Ein Relikt aus alten Zeiten
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Besichtigungsmöglichkeiten ohne Ende
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und noch ein Relikt
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Je tiefer der Sonnenstand desto prachtvoller die Naturimpressionen
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Ein kurzer Stopp am schmalen Strand
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Einstieg am Schiffsanleger Baumgartenbrück Richtung Insel Werder
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Fehlt nur noch Kaffee und Kuchen für eine gemütliche Butterfahrt
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und die ganz Harten bleiben doch noch an der kühlen Frischluft
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Das bekannte Stadtbild von Werder
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Petra begrüßt die Schiffsreisenden
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Große Pause in den Bürgerstuben zu Werder
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Einrüsten für den Nachtmarsch

Zunächst ging es in nördlicher Richtung weiter, um in einem Halbrund, zweimal die A10 querend, westlich des  Plesower Sees die Glindower Alpen – eine Tonabraumhalde  zu passieren. Hier begann für einige Teilnehmer der Lackmustest.   Während vorne Isgard und Erich das Tempo hielten, schwächelten doch einige  Teilnehmer.  Bedenklich die gewachsene Blasenkultur eines Mitwanderers, der bis zur nächsten Kontrollstelle hochgepäppelt wurde. Nicht viel besser der Zustand seines Wanderfreundes- die Beine zu, die Schmerzgrenze überschritten.  Rasch wurde der  Shuttle organisiert, der uns entgegenfuhr, um die Helden der Piste aufzunehmen. Wir verabschiedeten uns von den jungen Wanderfreunden, die bereits mehr als 60 Kilometer absolviert hatten – alles in allem eine mehr als respektable Leistung.

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Die blaue Stunde in Werder
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Mit Elan werden die noch anstehenden 60 Kilometer angegangen
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Ein kurzer Pausenbreak im offenen Feld

Wanderführer Dirk, ein profunder Kenner der Region berichtete unterdess von den riesigen Spargelfeldern die hier angesiedelt sind. Alleine am Erlebnishof Klaistow ein riesengroßer landwirtschaftlicher Eventbetrieb wie Dirk berichtete, werden 600 ha Beelitzer Spargel angebaut. Vorbei an einem Golfplatzareal ging es es entlang weitläufiger Pferdeweiden. Dirk erzählte, dass hier ein Edelpferdehof vom Allerfeinsten, ausgestattet mit einer Pferdesauna, angesiedelt ist. Statt Pferdesauna zogen wir es vor, eine große Pause im Inselparadieshof Petzow einzulegen und einen Kaffee als Doping einzuschwenken.  Einige Wanderer hatten bis dato bereits das Handtuch geworfen und sich zurückfahren lassen. Keineswegs verwerflich. Im Gegenteil. Anerkennung für die bis dato erbrachte Wanderleistung und Respekt für die Entscheidung einen Punkt zu erkennen, wann es nicht mehr weitergeht. Einige Mitwanderer mit dem ich im Gespräch war,hatten bis dato noch keine Erfahrung mit Langstreckenwanderungen, vor allem nicht in dieser Dimension.

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Kemnitz ohne CH
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Gaslampenambiente
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Raststation Golfplatz – mittlerweile versorgt die Feuerwehr die Wanderschar
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Trotz Kälte – die müden Knochen werden entlastet

Unterdess hatte sich am mond- und wolkenlosen Himmel ein eindrucksvolles Sternenbild entfaltet. Ausgefaltet hatten sich auch Gedanken der nächtlichen Mitwanderer. Wanderführer Stefan berichtete in aller Ausführlichkeit, dass er sich am meisten auf ein 1-Kilo-Rumpsteak freue, welches ihm als sonntägliches Mittagsmahl in Aussicht gestellt wurde. Ich gab mich deutlich bescheidener und hätte mich schon über ein Weißwurstfrühstück, angereichert mit einer frischen Brezel und einem Weißbier zum Frühstück gefreut.  Trocken hallte es von einem vor uns laufenden Mitwanderer durch die Nacht “Ein Bier würde mir genügen”. Die Gespräche ebbten ab, die Stirnlampenkette zog durch das Areal, dort wo Wolfsrudel beheimatet sind.  Zwei Mitwanderer, die sich als langstreckenerfahrene Wanderer outeten berichteten von der jährlichen 24 Stunden-Veranstaltung in Jena und sprachen eine glatte Teilnahmeempfehlung aus. Wanderführer Dirk bestätigte mir das später nochmals und berichtete, daß er selbst bereits zweimal daran teilgenommen hatte. Demgemäß eine leichte Entscheidung die zu nachtschlafender Zeit gefällt wird. “Horizontale Jena 2016” – ich komme.

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Neumond – sehr frisch –  aber ein prachtvoller Sternenhimmel – ansatzweise erkennbar der große Wagen

Ab dem Inselparadies Petzow übernahm der Feuerwehrtrupp die Nachtverpflegung für die Wanderschar. Noch standen fünf Teiletappen bis zur Zielankunft an. Mental hangelte man sich nun von Stützpunkt zu Stützpunkt. Ein leichter Reif legte sich über die abgeernteten Felder – Wollkappen und Handschuhe gehörten mittlerweile bei den Meisten zur notwendigen Grundausstattung.  Dirk berichtete von Lokalkoloritgeplänkel zwischen Ferch und Caputh, wir sinierten über die Zeit des Mauerfalls und unseren damaligen Eindrücken. So verflog die Zeit in Hochgeschwindigkeit.

Sascha, der Alt-Neuberliner war als 100-Kilometer-Novize immer noch gut dabei. Martin, der aus der Region stammt hämmerte bereits seit Stunden stoisch und mit Kontinuität seine Nordic-Walking-Stöcke in den Boden. Ria biß tapfer die Zähne zusammen, selbst die weichende Nacht und das anrückende Sonnenlicht konnte sie nicht mehr positiv stimmen.  Die rheinland-pfälzische Berlinerin, die tapfer bis zum Ziel durchhielt resümierte: “Einmal und nie wieder”. Sie bevorzugt eher eine stille Wanderung, einmal jährlich 50 bis 60 Kilometer.  Herzerfrischend die Offenheit und die Erkenntnis.

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Ein spektakulärer Start in den Sonntag. Von unten nach oben: Mond-Venus-Mars

Vor  Lienewitz kam die Stunde der Wahrheit. Wer bis jetzt durchgehalten hatte, schaffte es auch bis zum Ziel.  Die beiden Guides Stefan und Dirk schwadronierten über den vor uns liegenden Gipfelanstieg zum Wietkiekenberg in Ferch, immerhin 124 Meter hoch gelegen. Aus Sicht eines Odenwälders eher ein Maulwurfshügel, für die Flachlandbewohner und für das Gros nach mehr als 90 bereits absolvierten Kilometern jedoch eine alpine Herausforderung.Mit deutlich reduzierter Geschwindigkeit ging es hinauf auf den Hügel, dort wo ein Aussichtsturm errichtet steht, der eine hervorragende Aussicht auf das Havelland und auf die absolvierte Strecke bot. Ein letztes Mail hieß es “Zähne zusammenbeißen”. Sieben lange Kilometer durch einen herrlichen Waldabschnitt, vorbei  am Großen Lienewitzsee und am Caputher See. Ein herrlicher sattroter Sonnenaufgang bei knackigen 4 Grad mit frischem Ostwind begleitete uns auf dem Weg zum Ziel.

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Ein starkes Wanderteam: bereits mehr als 90 Kilometer absolviert
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20 Minuten vor Sonnenaufgang auf der Aussichtsplattform am Wietkiekerberg
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Und immer noch frisch: Isgard

Nach exakt 24 Stunden wurden 47 Finisher lauthals begrüßt.  Heißer Kaffee, Urkunden und Medaillen warteten auf die Ankommenden. Eine besondere Überraschung hielt Chef  Kalle für mich parat.  Meinen ständigen nächtlichen Einlassungen hinsichtlich der Gefahren der Unterhopfung und des  zu verzeichnenden Weißbiermangels an den Pausenstationen überdrüssig, begrüßte er mich mit einer eiskalten Flasche Weißbier.  Spätestens hier hatte ich die Petzower Wanderfreunde vollumfänglich im mein Herz geschlossen.

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Noch einmal Zähne zusammenbeißen – acht Kilometer noch bis zum Ziel
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4 Grad – kalter Ostwind aber ein prachtvoller Sonnenaufgang
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Zieleinlauf: Einmarsch der Titanen (Foto mit freundlicher Genehmigung von Sören Bels, Ferch)
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Ortsvorsteher Roland Büchner und Bürgermeisterin Kerstin Hoppe lassen es sich nicht nehmen am frühen Morgen die Finisher zu begrüßen (Foto mit freundlicher Genehmigung von Sören Bels, Ferch)
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Urkunde und Medaille für die Absolventen
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Angekommen und prämiert – zwei glückliche Finisher (Foto mit freundlicher Genehmigung von Sören Bels, Ferch)
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Ein majestätischer Weißbierempfang mit Bürgermeisterin Kerstin und Wanderchefin Petra – dafür lohnt es sich 100 Kilometer zu absolvieren. Herzlichsten Dank!! (Foto mit freundlicher Genehmigung von Sören Bels, Ferch)

 

Bleiben fünf Dinge, die es festzuhalten gilt:

  1. Bestnote für die exzellente und eindrucksvolle Streckenauswahl, die noch lange nachhallen wird.
  2. Chapeau für die ausgezeichnete Organisation der Veranstaltung, die mit einem immensen Aufwand vorbereitet wurde  – und das ausnahmslos durch ehrenamtlich Engagierte.
  3. Danke für die vermittelte Erkenntnis, dass das Havelland eine wunderbare Region ist, die, was man nicht zwingend vermutet, sich auch wandertechnisch allerbestens erkunden lässt.
  4. Danke an das Wanderführerteam mit besonderen Gruß an  Dirk und Stefan  – es war eine Freude Euch zu begleiten.
  5. Wiederholungsgefahr – das nächste Mal mit hoffentlich neuer Streckenführung – ist durchaus gegeben!
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Temperaturstudie – deutlich sieht man, wo man sich aufgewärmt hat

14 Kommentare

    • Hallo Wilhard,

      es ist nicht verboten nächstes Jahr mitzulaufen, das ist genau Deine Kragenweite! Allerbeste Grüße nach Soest

      Martin

  1. Vielen Dank lieber Martin für den tollen Bericht über das Wanderevent “Wandern mit uns 24-Std. Potsdam-Havelland”.
    Wenn ich das so lese, tut es mir fast leider nur im ORGA-Team gewesen zu sein ohne die Wanderung zu erleben.
    Sportliche Grüße aus dem Himbeerweg von Ingrid Dentler

  2. Hallo Martin,
    war zwar “nur” bei der 25 km Wanderung dabei, da in 4 Wochen der Athen-Marathon für mich ansteht, herzlichen Dank für deinen tollen Bericht und deinen Dank an die großartigen Petzower und alle ihre Helfer. Hab mich auch gefreut, die “Alte Wache Potsdam” wiederzusehen und über die liebevollen Pausengestaltungen auf unserer ebenfalls wunderschönen Route. Große Hochachtung vor allen Finishern der 100 km und das Überlegen, ob das für einen jetzt 67 jährigem Powerwalker auch nochmal was ist. Bei einer Wiederholung im nächsten Jahr möchte ich auf jeden Fall wieder dabeisein, vielleicht auch “nur” über die 50.
    Mit besten Grüßen und auf dem Weg zum Schlaubetal-Halbmarathon Dieter

    • Hallo Dieter,

      vielen Dank – und ich kann Dich nur ermutigen, mit 67 bist Du noch ein Jungspund. Ich kenne 72jährige die 24-Stunden-Trails mit über 2.500 Höhenmeter absolvieren – und das Wichtigste: “Die alten Eisen können noch beißen!” Beste Grüße Martin

  3. Guten Tag, Martin, toller Bericht, vielen Dank dafür! Ohne Dich hätte ich mich wahrscheinlich auf den letzten 7 km in den Graben gelegt, auch für Deine Ermunterung herzlichen Dank. Die 101-km-Wanderung im Sauerland, die ich erwähnte, heißt “Hollenmarsch”. Am Wochenende besuche ich den Hunsrück und schaue mir mal die Hennweiler-Strecke an… Viele Grüße Ria

  4. Hallo Martin,

    danke für diesen tollen Bericht. Ein Einheimischer könnte diese schöne Region nicht besser beschreiben- und die Fotooos!!! Bin die 50 km gegangen und kann Deine “fünf Dinge” auch für diese Strecke nur bestätigen.
    Das war eine super organisierte und sehr schöne Veranstaltung, die hoffentlich wiederholt wird.

    Viele Grüße aus Fresdorf
    Ralf-Jürgen

  5. Hallo,
    ich bin nur die 10 km mitgelaufen und im nächsten Jahr würde ich gerne die 25 km wandern.
    Dein Bericht mit den tollen Fotos gefällt mir sehr. Mir ist wieder so richtig bewusst geworden, wie schön meine Heimatstadt und ihre Umgebung ist.
    Vielen Dank auch an die Organisatoren.
    Viele Grüße aus Potsdam
    Marlies

  6. Hallo Martin,
    es war eine gelungene Veranstaltung, welche du erfahren dokumentarisch begleitet hast.
    Viele Dank auch für deine tolle Unterstützung während der 100 Kilometer (nicht nur für die Ersatz-Akkus …) und die interessanten Gespräche.
    Ich freue mich auf ein nächstes (für mich 2.) Mal!
    Frisch Auf!
    Martin

  7. Hallo Martin,
    ein hervorragender Bericht zum erstklassigen Wochenende. In Gedanken ist man direkt wieder auf der Strecke, bei tollen Gesprächen und netten Leuten die man kennen lernen durfte.
    Ich hoffe man läuft im Jahr 2016 wieder ein paar Kilometer zusammen 🙂
    Auch ein großes Kompliment für deinen Blog, vorallen den Eventkalender werde ich im Auge behalten.

    Beste Grüße
    Stefan

  8. Hallo Martin,

    ich hab unbedingt glauben wollen, dass ich das schaffe – und hab’s geschafft.
    Vielen Dank an alle Organisatoren, Helfer (vor allem an die, die uns nachts versorgt haben) – und an Dich.

    Kerstin (die kleine Blonde, die für zwei immer drei Schritte machen musste… ;-))

    • Und das ist auch das Geheimnis einer 24-Stunden-Wanderung Kerstin – der unabdingbare Wille es zu schaffen, der Glaube an sich selbst, ab und an zu beißen auch wenn es zwickt, im Bedarfsfall über den toten Punkt zu gehen, und immer im Hinterkopf zu haben, dass alle nur mit Wasser kochen, ob die mit langen oder die mit kurzen Beinen. Respekt für die Leistung!

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