Lüneburger Heide im November 2021 – Es ist alles eines Frage der Einstellung und der Sichtweise. Der Mensch im Allgemeinen neigt dazu spätestens Ende Oktober jegliche Wanderaktivitäten einzustellen. Kein Wunder – der Monat November ist durch und durch mit einer lethargischen Tristesse überzogen. Grau und nebelverhangen, ausgefüllt mit Sagen und Mythen, in der christlichen Hemisphäre mit Gedenk- und Besinnungstagen wie Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag und Totensonntag belegt, die Bäume mehr oder minder entblättert, kurzum ein Monat des Loslassens und Abschied nehmen.
Jedoch – wer mit dem Wandervirus infiziert ist findet immer gute Gründe zu jeder Jahreszeit wunderbar wanderbare Gelegenheiten zu entdecken. Während der letztjährigen spektakulären Heidschnuckenweg-Exkursion von Hamburg nach Celle war die Idee geboren, einzutauchen in die herbstliche Heide, zu einer Zeit wo die Landschaft zur Ruhe kommt, zu einer Zeit wo der Mantel der Melancholie sich über die Kulturlandschaft legt und zu einer Zeit wo es egal ist, ob Sonnenlicht den Lebensraum flutet oder der Hochwolkenvorhang die Erdfläche farblich entleert.
Das Ergebnis: eingeplant wurden vier spannende Individualtouren im Epizentrum der Lüneburger Heide, belegt mit einer auch im November noch tageslichttauglichen Schlagzahl von jeweils vierzig Wanderkilometern.
Auf dem Spitzbubenweg in die Osterheide
Gestartet wird in Behringen, einem Ortsteil der Gemeinde Bispingen, dort wo sich die Nahtstelle der Behringer Heide und der Osterheide befindet. Novembertypisch der Tagesstart: Ein leichter Niesel legt sich über den Rucksack nebst Wanderklamotten und erzeugt eine jahreszeitgerechte apokalyptische Grundstimmung. So verlasse ich zunächst in nördlicher Richtung das kleinen Heidedorf um hinter dem Waldfriedhof Richtung Twieselmoor in die Heide einzusteigen. Bereits auf den ersten Metern keimt das Gefühl auf “Die ganze Heide gehört mir”. Denn wer kommt schon auf den Gedanken zum nicht sichtbaren Sonnenaufgang an einem trüben nebelverhangenen Novembertag in die Heide einzusteigen.
Hinter dem kleinen Twieselmoor führt mich die Passage nach Niederhavernbeck, einer weiteren Drehscheibe für die nachfolgenden Wanderexkursionen. Durch das Havebeckental steigt man auf der Höhe des Wümmemoors in den Spitzbubenweg, der Richtung Schneverdingen führt, ein. Der Name kommt nicht von ungefähr. Es waren seinerseits Salzschmuggler – ergo Spitzbuben- die eine enge Schneise durch das Waldgebiet schlugen, um die kostbare Fracht an die jeweiligen Bestimmungsorte zu bringen.
Vor Schneverdingen läuft der Spitzbubenweg im westlichen Teil der Osterheide aus, dort wo über fünfzig Jahre lang britische und kanadische Panzerverbände die struktur- und artentreiche Heidelandschaft zerstörten. 27 Jahre nach Auflösung des militärischen Sandkastens sieht man oberflächlich betrachtet keine Spuren mehr und die Heide entwickelt sich im Einklang des Natura 2000-Konzeptes. Just an diesem Tage sind ehrenamtliche Heideflächenpaten aus Schneverdingen im Einsatz, denn es ist “entrusseln” angesagt. Dabei werden Schösslinge von Birken und Kiefern entfernt, da ansonsten Bäume die Regie über die Heide übernehmen würden. Da zudem, wie die emsigen Helfer berichten, in 2020 coronobedingt die Freilufttätigkeit “entrusseln” untersagt war, gestaltet sich dieses Jahr die Heidepflege besonders aufwändig. Am westlichsten Punkt dieser Passage ist am Ortsrand von Schneverdingen der Besuch einer außergewöhnlichen Kirche, der Eine-Welt-Kirche eingeplant. Der außergewöhnliche Sakralbau war seinerseits ein Aktionsbau anlässlich der EXPO 2000 in Hannover und besticht durch eine außergewöhnlich geometrische Formensprache sowohl im Außen- als auch im Innenbereich. Normalerweise ist die Kirche von Oktober bis Ostern nicht geöffnet, jedoch ein zufällig anwesendes Gemeindemitglied ermöglichte eine interessante Ad-hoc-Privatführung.
Von der Kirche geht es zurück in die Heide, das Möhrer Moor über einen Bohlensteg querend. Über die Aussiedlerhöfe Hof Möhr, Bockheber, Wulfsberg und dem Hof Tütsberg ist nach 40 Kilometern und immerhin 264 Höhenmetern der morgendliche Startort Behringen wieder erreicht.
Seven Summits
234 Quadratkilometer groß ist das Naturschutzgebiet Lüneburger Heide. Die Heideflächen rund um den Wilseder Berg zählen dabei zu den größten zusammenhängenden Heiden des Gesamtgebietes. Für leistungsstarke und bergerfahrene Wanderer bieten Naturpark-Ranger unter der Überschrift “Five Summit Walk” eine Gipfeltour zu den höchsten und schönsten Heidegipfeln an. Jedoch was sind schon “Five Summits”, wenn man über eine erweiterte Tour “Seven Summits” erklimmen kann.
Diese Gipfelexpedition startet in Niederhaverbeck, um aus dem Stand heraus die Erklimmung des 104 Meter hohen Wümmeberges und des benachbarten 108 Meter hohen Suhorns in Angriff zu nehmen. Auch wenn der Grauschleier sich über die Heide gelegt hat, die Weitblicke in die Weiten des Naturschutzgebietes überzeugen allemal. Über einen Höhenpfad wandere ich in östlicher Richtung zum benachbarten Oberhaverbeck, dort wo einige ausladende Gehöfte angesiedelt sind die auch Übernachtungsmöglichkeiten in der Abgeschiedenheit der Lüneburger Heide ermöglichen.
Just ein Kilometer hinter Oberhabereck wartet die nächste Herausforderung, die Erklimmung des 135 Meter hohen Turmsbergs. Empfehlenswert ist dabei die leichtere Westroute (:)) zur Gipfelerklimmung zu wählen. Steil abwärts führt der Nordgrat hinein in die Heidelandschaft um nach weiteren drei Kilometern den stattlichen Stattberg anzugehen, der als Vorgebirge des benachbarten 160 Meter hohen Bolterbergs anzusehen ist. Bereits von hier aus kann man den beeindruckenden Höhenzug der gegenüberliegenden höchsten Erhebung des Nordwestdeutschen Tieflandes, dem Wilseder Berg ausmachen, der jedoch erst auf der Rückpassage angegangen wird.
Nach den kräftezehrenden Anstiegen ist zunächst Wandern in der Ebene durch die Heide nach Wilsede angesagt. Wilsede, ein typisches Heide-Vorzeigedorf. 29 Seelen und 28 Gebäude umfassend wird das Dorf zur Hauptsaison von Tagesgästen regelrecht überflutet. Hingegen zu dieser Jahreszeit – ausgestorben. Autos sind hier verboten, die Gassen verwaist, kein Hufengeklapper und Schlittenradsgerumpel auf dem Kopfsteinpflaster – eine fast schon unheimliche Stille legt sich über das alte Heidebauerndorf. Zweifelsohne ist der ein Kilometer entfernte Totengrund DER Besuchermagnet der Region. Die markantesten Bilder einer blühenden Heide werden hier aufgenommen. Überschwänglich beschreiben Marketingexperten der Lüneburger Heide diesen Heidezipfel: “Der Totengrund -ein Tal von überirdischer Schönheit. Die lila Heidepracht bringt den Kessel bildhaft zum Überlaufen.” Auf jeden Fall ist es zu empfehlen nicht nur an der Aussichtsplattform der Westkante stehen zu bleiben, sondern über den zwei Kilometer langen Professor-Thomsen-Weg das Areal zu entdecken, einschließlich dem 132 Meter hohen Holzberg. Nach Umrundung des Totengrunds bietet sich eine Einkehr in der Milchhalle kann, dort wo eine wärmende Erbsensuppe und ein kühlendes Weißbier das Wanderglück perfekt macht.
Wer auf der Flucht ist, kann von Wilsede aus nach 1,6 Kilometer den höchsten Gipfel der Heide, den 169 Meter hohen Wilseder Berg erreichen. Ansonsten empfiehlt sich eine großzügige Umrundung des Waldabschnittes Heínköpen um nach sieben Kilometern Gang durch die gepflegte Heidelandschaft im moderaten Anstieg den Kilimandscharo der Heide zu erobern. Der Hügel, ein Restant aus der Eiszeit. Man klarem Wetter kann man von hier sogar die Türme des siebzig Kilometer entfernten Hamburgs ausmachen.
Da nach mehrfacher Gipfelbesteigung noch mehr Tag als ursprünglich eingeplant war übrig ist, entscheide ich mich für eine zusätzliche Heidetour, die durch das Niederhaverbecker Holz einerseits, vorbei am Forsthaus Einem andererseits, zur Aussichtskanzel Fürstengrab führt, um auf dem Heidetalpfad zurück nach Niederhaverbeck zu wandern. Seven-Summits in der Heide – eine ein- und aussichtsreiche Strecke – wandertechnisch als Rundumschlag hochgradig zu empfehlen, auch wenn auf dieser 38 Kilometer langen Strecke kräftezehrende 465 Höhenmeter einzuplanen sind.
Moore und Magerrasen
Szenenwechsel nach der Gebirgstour des Vortages. Am dritten Exkursionstag kann man die Osterheide unter einem etwas anderen Fokus entdecken. Ich starte am Parkplatz Osterheide, vor den Toren der Stadt Schneverdingen, um zunächst in nördlicher Richtung Camp Reinsehlen zu wandern. Bis in die dreißiger Jahre war hier das Landschaftsbild heidetypisch ausgerichtet. Alte Eichen, krumme Kiefern, kleine Moore und weite Heideflächen prägten das Landschaftsbild. 1938 wurde das Land beschlagnahmt, die Heidebauern enteignet, das Gelände eingeebnet, und ein Militärflughafen errichtet. Nach dem Krieg wurde ein Flüchtlingslager aufgebaut, anschließend nutzten englische und kanadische Panzertruppen zur Freude der Anwohner das Areal als Panzerübungsplatz. 1994 war der Spuk vorbei. Man entwickelte seitdem die größte Sandmagerrasenfläche Niedersachsens und errichtete eine Akademie für Naturschutz und das Hotel Camp Reinsehlen.
Nach einer Capuccinopause in der Hotellobby von Camp Reinsehlen führt meine Passage durch die Heideflächen Höpen in den weit über die Grenzen der Region bekannten Heidegarten in Schneverdingen. Mehr als zweihundert Heidesorten mit insgesamt 200.000 Pflanzen wurden hier eingebracht. Natürlich – zur Blütezeit explodiert die Gartenlage förmlich, aber auch im November kann man noch vereinzelte spätblühende Sorten ausmachen. Schneverdingen querend und durch den Südpark wandernd ist Szenenwechsel angesagt. Im Fokus steht nun das südlich der Stadt gelegene größte zusammenhängendes Moorgebiet der Lüneburger Heide.
Moore sind natürlich ein Kapitel für sich. Aber gerade im tristen November entfalten solche Orte eine eigene Mystik. So gehört es zum Pflichtprogramm bei dieser Tour das 2,5 Quadratkilometer große Pietzmoor zu entdecken. Zweifelsohne begibt man sich hier auf den Holzweg, denn insgesamt 6,3 Kilometer wurden mittels Holzbohlenwege erschlossen. Moorleichen sucht man hier vergebens, wer es etwas gruseliger haben möchte kann mit einer Moorhexe vom Touristikverband des Nachtens durch das Moor ziehen. Ansonsten verbleibt die Erkenntnis einfach einzutauchen in eine wunderbare und außergewöhnliche Landschaft.
Nach diesen moorigen Eindrücken erfolgt nochmals eine entspannende Runde durch die Osterheide, auf der man Zeit hat die vielschichtigen Eindrücke dieser 39 Kilometer langen Tour sacken zu lassen. Einmal mehr belegt diese Wanderung welche vielschichtigen Facetten die Lüneburger Heide bietet.
Heidejuwelen
Zur Abrundung der viertägigen Heidepassage gibt es noch einmal einen sattsamen Heiderundumschlag. Den Kern vom Kern herausarbeitend stand in der Wanderplanung die Heidezone rund um Wilsede mit den Eckpunkten Niederhaverbeck, Undeloh, Sudermühlen, Auberg, Oberhaverbeck und Wulfsberg im Fokus. Die Passage diesmal im Uhrzeigersinn angehend ermöglicht einerseits andere Blickachsen, aber auch die Bestätigung mittlerweile mit einer Vielzahl von Wacholderbuschformationen, Heidehügeln und Landschaftsbildern vertraut zu sein. Dennoch – langweilig wird die Passage nicht – im Gegenteil.
Gestartet wird in Niederhaverbeck. Auch an diesem Tag wird die Sonne keine Strahlkraft entwickeln können und so ist tiefherbstliches Heidefeeling vom Feinsten angesagt. Über den Eickhof und Heidetal geht es zur mittlerweile wohlvertrauten Anhöhe des Wilseder Berges um im Anschluß am Waldrand des Gemarkungsabschnittes Westernhop in das fünf Kilometer entfernte Undeloh zu wandern. Von Niederhaverbeck nach Undeloh sind zu Fuß quer durch die Heide acht Kilometer zu absolvieren. Wer jedoch mit dem Auto unterwegs ist, muss zwanzig Kilometer einplanen. Das Heidedorf Undeloh ist eines der beliebtesten Zielpunkte für Heidebesucher. Hier kann man E-Bikes mieten oder per Kutsche die Heide entdecken. Und für besonders naturverbundenen Freaks ist zudem ein sieben Kilometer langer Nacktwanderweg (gelbes N als Wegekennzeichnung) eingerichtet. Jedoch wird augenscheinlich diese Passage im November weniger frequentiert.
Viele Undeloher Gäste werden die Heiderennstrecke zwischen Undeloh und Sudermühlen kennen. Wer gut zu Fuß ist kann hier auf fünf Kilometern von Einkehrstation zu Einkehrstation pendeln, optional per Leihrad und besonders beliebt auf der Kutsche. Damit endet für die Meisten im Allgemeinen das Abenteuer Heide. Wer jedoch tiefer eintauchen möchte, dem sei der fortführende Gang über den Alten Postweg zum Aussichtspunkt Auberg empfohlen. Weiterführend wandert man auf dem schönen Pastor- Bode-Weg durch Wald- Fluss- und Heidelandschaften zum bereits vorgestellten Heidedorf Wilsede.
Von Wilsede aus wandere ich über den benachbarten Steingrund, dem kleinen Bruder des Totengrunds durch das Oberhaverbeck Holz zum gleichnamigen Weiler um über eine Abschlussrunde am Rande des Wulfberges nach Niederhaverbeck einzuschwenken. Eine krönende Passage, die als Sahnehäubchen einmal mehr “Heidefeeling pur” vermittelt.
Man kann Geld ausgeben für Meditationstage im Kloster, für sedierende klangschalenunterlegte Rosenblütenbäder in Wellnesstempeln oder stressabbauende Trommelkurse in der Volkshochschule. Man kann es auch vereinfachen und die Wanderstiefel in der ruhigen Zeit des Jahres schnüren, um ein- und abzutauchen in eine faszinierende Umgebung, subsumiert unter der Überschrift “Wanderabenteuer in der Novemberheide”. In toto eine viertägige Wandertour gespickt mit erlebnisreichen 155 Kilometern und wohlverträglichen 1.400 Höhenmetern. Übrigens….. die nächste Heideexkursion liegt schon in der Schublade: Wandern durch die winterliche Heide. Als Grundbasis stehen 110 Heideschleifenkilometer bereit. Einzig die Rahmenbedingungen müssen dabei stehen. So berichtete eine Undeloherin bei einer Tasse Kaffee, dass in den letzten zehn Jahren erst zweimal eine geschlossene Schneedecke zu verzeichnen war. Ab und an benötigt man Sitzfleisch, auch wenn die Wanderbeine schon wieder scharren……
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