Rimbach, 30. August 2014
“Das Niemandsland zwischen Birkenau und Rimbach ist der scheußlichste Ort der Welt. Wie die Odenwaldhölle junge Menschen zurichtet – und wie ich aus ihr entkommen bin.” Hohe Wellen schlug ein zum Jahreswechsel 2013/2014 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von der in Berlin ansässigen und im Weschnitztal aufgewachsen Redakteurin Antonia B. publizierter Beitrag zum Thema “Heimat” unter der Überschrift “Dieses Stück Germany”.
Anlass genug, um sich im Rahmen einer ausgedehnten Exkursion Ein-, Aus-und Rundblicke zu verschaffen, wie es aktuell um diese Region bestellt ist. Dank detaillierter Beschreibung (Zitat: “Ich bin auf diesen Odenwald , genauer auf die Gegend zwischen Birkenau und Rimbach, im Alter von sechs Jahren einfach draufgeworfen worden, ohne zu wissen warum und ohne je verstanden zu haben, was wir, meine Familie und ich, eigentlich dort machen. Es war entsetzlich, vom Anfang bis zum Ende, und ich kann also überhaupt nicht behaupten, dass ich eine Heimat habe, und ich kann auch nicht verstehen, wie man in diesem pervers verkleisterten und kopflos verbauten Nachkriegs-, Nachwende- und Attrappendeutschland überhaupt Heimatgefühle entwickeln kann, und das ist mein Ernst….Und so sind wir aus Berufsgründen, die mein Vater hatte, in dem für den Kopf lebensgefährlichen Odenwald, genauer dem Stück zwischen Birkenau und Rimbach, gelandet, das an Hässlichkeit und Traurigkeit eigentlich nicht zu überbieten ist, wäre es nicht so, dass es in Deutschland viele Orte gibt, die mühelos genauso hässlich und egal sind, wie eben dieses Stück Germany.) war es einfach die “Odenwaldhölle” zu lokalisieren. Die ausgezeichnete Infrastruktur der markierten Wanderwege (Lob und Dank an den Odenwaldklub, den Geopark und die Kommunen) war es möglich eine Ringwanderung über 42 Kilometer einzuplanen, um im 360-Grad-Fokus, am Tellerrand der Hölle entlang, sich ein Bild über die aktuelle Lage dieses Landstriches zu verschaffen.
Ausgehend vom Siedepunkt der Hölle, Rimbach, (Zitat: “Als heranwachsender Mensch war es ein Todesurteil. Es blieb einem nichts übrig, als im Alter von elf Jahren das Rauchen anzufangen, zu kiffen, bis man nichts mehr sah, und zu klauen, um sich irgendwie zu unterhalten. ….Verantwortlich für die Häuser und Neubauten waren schätzungsweise Bauprojektführer, Geschäftsmänner, Architekten, Odenwaldverantwortliche und Familienoberhäupter, deren Köpfe aus unterschiedlichsten Gründen entweder vernagelt oder gleichgültig gegenüber dem Odenwald gewesen sein müssen. Es ist ein Rätsel, warum in dem an sich so schönen Odenwald fast ausnahmslos hässliche Häuser stehen, und wann immer ich dort bin, frage ich mich das aufs Neue: Wie konnte das passieren?”) ging es zunächst über 300 Höhenmeter hoch hinauf zur sechshöchsten Erhebung des Odenwaldes, die Tromm.
Düster zunächst der Start in den Tag, der zunächst zögerlich den Dunstvorhang der regenintensiven Nacht ablegte. Kurz nach Sonnenaufgang war das Risiko gering auf marodierende Jugenddrogenbanden zu stoßen. Zügig bergangehend entdeckt man im naheliegenden Waldbereich denTrommgranit als Bestandteil des kristallinen Odenwaldes. Moosbewachsene Granitboliden, eingehüllt im Morgendunst, einzig fehlt der Schwefelgeruch um das Höllenszenario zu komplettieren. Den mit einem weißen Dreieck gekennzeichneten OWK-Hauptwanderweg Nummer 26 (Lamperheim-Buchen) folgend, führen herrliche Waldpfade hinauf zur Tromm.
Auf der 577 Meter hohen Tromm steht seit 1910 der nach der Prinzessin Irene von Hessen-Darmstadt benannte Zweitbau (der erste 1890 errichtete Turm wurde 1907 abgerissen) der seit 2013 wegen Baufälligkeit geschlossen ist. Von seiner Plattform hatte man einen grandiosen Ausblick in das Weschnitztal hinein, über fast den gesamten Überwald bis in die Rheinebene und zur Pfalz. Nach Schätzung der Kommune wird der Sanierungsaufwand mit einer sechssstelligen Summe beziffert. Betrieben wird hier auch eine Erdbebenwarte der TH Karlsruhe.
Weiter dem roten Quadrat des OWK-Hauptwanderweges No 15 (Main-Strombergweg) folgend, kann man auf dem hier von der Sparkassenstiftung Starkenburg gesponserten Kunstpfad aufwändig gestaltete Kunstobjekte besichtigen. Kunst im Höllental – wer hätte das gedacht? Auffallend viele Arbeiten wurden dabei aus Sandstein als Anleihe auf den in unmittelbarer Nachbarschaft beginnenden Buntsandsteinodenwald gefertigt.
Auf den Höhenwanderweg Tromm, der mit dem Prüfsiegel des Odenwaldklubs als Qualitätswanderweg zertifiziert wurde (Kriterien gute Markierung, abwechslungsreiche Wegführung, Einkehrmöglichkeiten, schöne Ausblicke und Sehenswürdigkeiten) geht es weiter zur Kreidacher Höhe.
Verlockend einladend nach dreizehn gelaufenen Kilometern die Einkehrstation Cafe Sonnenblick auf der Kreidacher Höhe. Auf dem 423 Meter hochgelegen Bergsattel, der zur Gemarkung Waldmichelbach zählt,befindet sich der niedrigste Punkt der Wasserscheide zwischen dem Ulfenbach im Osten und der Weschnitz im Westen. Ein aufwändig gestaltetes Freizeitareal nebst Sommerrodelbahn und Kletterwald hat hier die Betreiberfamilie Metz geschaffen. Wanderer sind herzlichst willkommen. Gerne wurde die Gelegenheit genutzt zu einem kommoden Preis am Frühstücksbuffet ein zweites verstärktes Frühstück einzulegen.
Die nächsten Kilometer Richtung Ober-Absteinach werden geprägt von herrlichen Aussichten in die sanfthügelige Mittelgebirgslandschaft. Einzig die üppig in die Höhe geschossenen Maisfelder verwehren manch einen Ausblick. Hinter Ober-Absteinach setzt bereits der nächste Qualitätswanderweg, der Panoramaweg Ober-Absteinach ein. Unweit vom gelaufenen Pfad geht es vorbei am “Teufelsstein”. Dieses Felsgebilde fällt durch eine Quarzkristallschicht auf, die sich wie ein Gürtel um den Felsen zieht. Dem Volksmund nach war einst der Teufel an diesen Stein gekettet (langsam erschließt sich der tiefere Sinn der Odenwaldhölle), andere Deutungen lassen den Felsen als vorchristliche Kultstätte (Opfertisch) erscheinen. Doch ist das Erscheinungsbild des Teufelssteins wohl eher Ergebnis geologischer Umformungen und Verwitterungsprozesse, die seit Millionen von Jahren andauern.
Weitreichende Blicke auf die Rhein-Neckar-Ebene Richtung Mannheim/Ludwigshafen erschließen neue Sichtweisen und geografische Zusammenhänge des Areals. Nicht umsonst ist dieses Gebiet ein beliebter Rückzugsort für manch einen streßgeplagten Großstädter. Entschleunigung statt Beschleunigung, herrliche Landschaften, gewachsene Kultur, bodenständige Menschen und hervorragende Landgasthäuser. Gerade an Wochenenden sind viele Fahrzeuge mit den Kfz-Kennzeichnen “OF” und “F” zu sehen – gern gesehene Gäste eben – die die Schönheit des Odenwaldes zu schätzen wissen.
Auf ausgesprochen angenehmen Pfaden führt der weitere Wegverlauf Richtung Birkenau zum Franzosenkreuz. Einer Überlieferung zufolge soll bei diesem Kreuz ein französischer Soldat begraben worden sein, der von Bauern wegen Plünderung eines Kornfeldes erschlagen wurde. Diese oder ähnliche Sagen wurden mit mehreren Steinkreuzen im Odenwald in Verbindung gebracht. Dabei wurde immer wieder auf die Franzoseneinfälle der Jahre 1673/74, 1689/90 und 1799 referenziert. Wahrscheinlicher erscheint es, dass von der Stelle des Kreuzes aus ein Einfall auf Birkenau vorgenommen wurde. Dafür spricht auch der in der Nähe befindliche Franzosengraben. Nach herrschender Meinung handelt es sich bei derartigen Kreuzen um “Sühnekreuze”, die wegen eines vorgekommenen Mordes auf Kosten des Täters gesetzt wurden. Die Setzung wurde oftmals durch einen Sühnevertrag geregelt, der auch die Form der Wiedergutmachung (Rentenzahlung an Hinterbliebene, Wallfahrten, weltliche Bußen) regelte. Bei dem abgebildeten Kreuz handelt es sich um das älteste von Menschen erschaffene Flurdenkmal in der Birkenauer Gemarkung.
Hinab geht es in das mittlerweile 10.000 Einwohner zählende Birkenau, das “Dorf der Sonnenuhren” Leider lässt es die Zeit nicht zu, die mehr als 80 Sonnenuhren zu besichtigen. So führt der weitere Wegverlauf hinauf zur acht Kilometer entfernten und 371 Meter hoch gelegenen Juhöhe. Nicht einfach die geografische Zuordnung des Areals. Während der Gebirgspass zu Heppenheim zählt, gehört die nahe davon gelegene Siedlung Juhöhe zum Mörlenbacher Ortsteil Bonsweiher. 100 Meter nördlich befindet sich die hessisch/baden-würtembergische Grenze. Der ungewöhnliche Name “Juhöhe” tauchte erstmals in Verbindung einer Gaunerbande, die Hölzerlipsbande, auf. Vor ihrem Überfall am 30. April 1811 auf Schweizer Kaufleute an der Bergstraße zwischen Hemsbach und Laudenbach kehrten die Räuber in einem „Juchhe-Häuschen“ der „Michael Fuhnischen [=Fuhr] Eheleute“ ein. Allemal heute noch empfehlenswert eine Einkehr in die Waldschenke Fuhr, welche direkt am Europäischen Wanderg E1 (Ostsee-Mittelmeer) gelegen ist.
Auf dem Weg zur Waldschenke kommt man vorbei am Anwesen des Willi Fabbians, dort wo ein historischer Wasserbrunnen restauriert wurde. Die Wasserversorgung auf der Juhöhe war lange eine schweißtreibende Angelegenheit, da es kein Trinkwasser gab. Bewohner trugen seinerseits das Wasser von der 30 Meter tiefer gelegenen Ederbachquelle eimerweise hoch,bis die Gemeinde Bonsweiher einen 14 Meter tiefen Ziehbrunnen errichten lies.
Die Geschichte des Kreiswaldes, eine bei Pferdefreunden bekannte Lokation, beginnt in Dieburg. Die dort ansässige Adelsfamilie Ulner zu Dieburg besaß im Landbezirk Lindenfels im Odenwald den Crayßwald, später Kreiswald, bei dem sich ein größerer Bauernhof befand, welcher im Laufe der Zeit durch Rodungen entstanden war. Im Jahre 1797 stellte die Witwe von Johann Wilhelm Freiherr von Ulner Anwälder Bauernhof einen neuen Erbbestandsbrief aus. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft um 1806 wurde der Pächter Hofbesitzer. 60 Jahre später wurde die Erlaubnis für die Errichtung einer Branntwein-Brennerei erteilt, als „Geburtsstunde“ der heutigen weit über den Grenzen der Odenwaldhölle bekannten Edelbrennerei! Höllisch guter Stoff eben……
Von hier genießt man einen Panoramablick über den fünf Kilometer langen Trommrücken. Er schützt das Weschnitztal gegen das rauere Klima des Odenwaldes ab. So wachsen an geschützten Lagen Aprikosen, Pfirsiche und Feigen. Geologisch trifft hier das kristalline Grundgebirge auf das Deckgebirge des Buntsandsteines. Von hier ein wunderbarer Blick auf die gegenüberliegende Tromm und die Kreidacher Höhe.
“Der Mann, der mich vor alldem bewahrt hat, war mein Deutschlehrer, und seinetwegen setzte ich mich an manchen Tagen gerne in die Weschnitztalbahn, um in die Schule zu fahren, wo er über Bücher sprach, in denen man, selbst im Odenwald, zumindest zeitweise, zu Hause sein konnte, die einem aber umso deutlicher machten, warum man da dringend weg muss, aus dem Odenwald, aus allem, raus.” (Antonia B.) Auch heute noch besteht die Option, für all diejenigen die sich hier nicht wohl fühlen, eine einfache Fahrtkarte zu lösen – Endstation Bahnhof Zoo…. erreichbar in 6 Stunden und 54 Minuten, mit zweimaligem Umstieg.
Resümee: Ungeachtet der Despektierlichkeit des Artikels (Zitat: Heute könnte man dem Odenwald nur helfen, indem man alle Menschen und Häuser aus ihm rausnähme und ihn allein ließe. Das wäre seine einzige Chance.), eines hat die unselige Veröffentlichung des Artikels bewirkt – eine deutliche Reaktion vieler Odenwälder Mitbürger die zu ihrer lebenswerten Region stehen. Ob T-Shirts mit Aufdrucken wie “Absolut Ourewäller” eine eigene Facebook-Seite mit über 12.000 “Likes”, heftige Leserreaktionen gegenüber der Frankfurter Zeitung, schriftliche Stellungnahme des Landrats, Twitter- oder Blogbeiträge – der Resonanzboden schwang mächtig, und das auch zu Recht, zurück.
Die Wanderexkursion verdeutlichte einmal mehr: “Dieses Stück Germany” eine lebens- und liebenswerte historisch gewachsene Region mit all ihren Ecken und Kanten, reich an Geschichte und Kultur, lohnenswert entdeckt zu werden, für all diejenigen die sich darauf einlassen möchten. Speziell die ausgearbeitete Wandertour: höllisch gut – eine Empfehlung für Wanderinteressierte, die die Schokoladenseite dieses Mittelgebirges entdecken möchten -selbstredend auch als Zweitagestour mit einer Übernachtung im Epizentrum der Odenwaldhölle. Akzeptanz für diejenigen die ihre Heimat (dort wo man sich persönlich wohl fühlt) in einem anderen Lebensraum sehen, Respekt für Menschen, Vereine und Organisationen, die sich nachhaltig für die heimische Region und seine Menschen einsetzen und Mitleid für alle diejenigen, die eine Idylle, mit all ihren Schattierungen die ein ländliches Leben mit sich bringt, zu einer Hölle umwidmen.
N.B.: Für all diejenigen die einen Nachschlag brauchen: der nächste Höllentrip steht bereits auf der Wanderagenda. Unter dem Motto: “Auf den Spuren der Drachen” führt das Rimbacher Outdoorgeschäft Pro Line Sports am 19. September 2014 eine 24 Stundenwanderung durch die Odenwaldhölle durch.
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